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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Martersteig, Max: Illusionsbühne und Stilbühne
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0421

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Martersteig·, Illusionsbühne und Stilbühne

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Herr B a b führte aus, er sei mit dem Vortrag-enden darin einig-, daß in der
Frage Stil« oder Illusionsbühne die Wahrheit zwischen den beiden Extremen gesucht
werden müsse — aber nicht in einer mathematischen Mitte, sondern in der leben«
digen Bewegung zwischen zwei Kraftpolen. Dies stelle sich für prinzipielle Betrach«
tung so dar: Wie nach Platon die Liebe ein Mittleres zwischen Haben und Nichthaben,
so sei der Kunstgenuß für alle Menschen ein Mittleres zwischen Glauben und
Nichtglauben. Illusion, Hineingerissensein in eine fremde Welt, und Wissen um
die eigene Freiheit, den bloßen Spielcharakter des Erlebens sei gleichmäßig
möglich. Das Theater sei aber gerade deshalb die eindrucksstärkste Kunst, weil
die Elemente der Täuschung sowohl wie jene, die den bloßen Stilcharakter unter«
streichen, im Theater ganz besonders stark ausgebildet werden. Die Stilgeschichte
des Theaters sei aber nichts anderes als ein abwechselndes Verlegen des Schwer«
punkts vom Pol der Freiheit nach dem Pol der Illusion. Wie ein Schauspieler,
der in einer leidenden Rolle wirklich krank wird, statt Kunstgenuß panischen
Schrecken auslöse, so gebe es auch eine Natürlichkeit der Dekoration, bei der die
Illusion in ihr Gegenteil umschlage. Aber eben so gebe es einen Punkt rein
rezitatorischer Schauspielkunst und abstrakter Inszenierungen, bei dem wiederum
die Wirkung der Kunst aufhöre, und etwas eintrete, was der rein kirchlichen
Zeremonie oder der wissenschaftlichen Disputation gleichen möge. So sei an den
Extremen der Tod und nur in der Bewegung zwischen ihnen das Leben. Wie mm
aber die großen Dramatiker sich auf verschiedenen Punkten dieser Skala
angesiedelt hätten, so müsse allerdings auch die Inszenierungskunst verschiedene
Stadien zwischen Illusion und rein geistigem Stil innehalten. Freilich soweit uns
in der Verlegung der Akzente die freie Wahl gegeben sei, soweit ein Stil gepflegt
werden solle, der zukünftigen dramatischen Werken die Bahn bereite, so weit
entspreche es wohl der gegenwärtigen Situation, daß der Akzent von der Seite der
Illusion wieder hinüber auf die Seite freier geistiger Stilbildung gelegt werde.
Deshalb seien so dilettantisch kühne Versuche wie die von Hellerau, wo man einen
illusionslos freien Treppenaufbau als Szene, das Licht als naturlos künstlerisches
Betonungsmittel und die Schauspieler mit unnaturalistisch durchgehaltenen Gesten
und Tönen gesehen habe, als Anregungen von großem Wert zu begrüßen.
 
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