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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Goodman, Alfred: Kunst und Wissenschaft des Gesanges
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0518

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5Ί2

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Gesangskünstler werden. Aber diese sogenannten „Natursänger“ (wie es z. B.
Frau Schumann-Heink im Anfang ihrer Laufbahn war) sind verzweifelt
selten. Und sie werden zudem eben durch die Ergreifung des Sängerberufs,
ohne es zu wollen und zu wissen, allmählich zu „Kunstsängem“, weil sie
durch ein gelegentliches Versagen der natürlichen Anlage gezwungen sind,
mit mehr Aufmerksamkeit als zuvor auf die Technik ihres Singens zu
achten. Im allgemeinen aber findet sich beides nicht vereinigt: meist hat
der Eine die schöne Stimme (Knote sei als Paradigma genannt), der Andere
die große Kunst (z. B. Wüllner). — Was ist also hier „gut singen“ oder
„schön singen“? — Schon da kommen wir ins Gedränge. Solange wir
von solchen Extremen reden, könnten wir uns einigen: Knote singt schön,
Wüllner gut. Sowie wir aber von der überwältigenden Majorität der Sänger
reden oder gar nichtdeutsche Gesangskünstler in den Kreis der Betrachtung
ziehen, wird es unmöglich, das Wort „Schönheit“ als einen Wertbegriff, als
etwas Objektives zu fassen. Nehmen wir gleich das Extrem, den Gesangs-
Schönheitsbegriff des Ostens. In ihrer Arbeit über das Tonsystem der
Japaner berichten Abraham und Hornbostel1) ausführlich über
den Gesang, sie referieren über die allgemeinen Anstands- und Rücksichts-
vorschriften des Sängers, über die ästhetischen Grundlagen des Gesangs-
vortrages und sagen über den Gesang selber:
„Der japanische Gesang ist nach unseren Begriffen weit davon entfernt, wie
eine mühelose Bruststimme zu klingen, er scheint uns stark gequetscht. Die
Sänger strengen sich an, diese Kehllaute hervorzubringen, wie man an den
geschwollenen Halsvenen und dem geröteten Gesicht erkennen konnte. Ein
Japaner sagte uns, daß dieses gutturale Quetschen besonders erlernt werden
müsse; nur Kinder und Kutscher lassen nach europäischer Manier die Töne aus
dem Bauch kommen. Er meint, daß die Ursache dieses Gesangsstils darin läge,
daß ein zu weites Öffnen des Mundes in Japan als unschicklich gilt. So werden
auch beim Sprechen die hellen Vokale vermieden, sogar lautes Sprechen gilt für
unfair; selbst Gefühlsausbrüche, Wut und Eifersucht drückt der Japaner nie in
starken Tönen aus, wie wir uns bei den Schauspielern überzeugen konnten.“
Man überlege nun einmal, was eine so erzogene, kunstverständige
Zuhörerschaft empfinden muß, wenn sie Carusos emphatische Bajazzoklage
hört, die uns Europäern als der erschütternde Ausdruck verzweifelter
Gemütsstimmung und zugleich als berückend schöner, technisch vollendeter
Gesang klingt. Und auch Carusos Gesang ist nicht ohne weitere Ein-
schränkung „schön“. Er ist es nur, weil dieser Künstler sich auf den Vortrag
der Werke beschränkt, die seiner gesangskünstlerischen Eigenart gut liegen.
Kein Mensch kann sich ihn als Fidelio oder als Tristan vorstellen. Denn
die romanische Art der Musik erfüllt seinen Gesang. Bei ihm stört uns
auch nicht, was unseren Ohren bei den italienischen „Natursängem“, selbst
wenn sie schöne Stimmen haben, oft so unerträglich klingt, die plärrige
(sogenannte „offene“) Tongebung. Andererseits gefällt natürlich den

x) O. Abraham u. E. Μ. v. Hornbostel. Studien über das Tonsystem d. Japaner.
Sammelbände d. Intern. Mus.-Ges. 1903, IV. Jahrg. Heft 2.
 
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