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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 22.1911

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Osborn, Max: Die Winterausstellung der Berliner Sezession
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https://doi.org/10.11588/diglit.5953#0085

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ACAD. LESEH.

28.DE2.1910 .

KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13
Neue Folge. XXII. Jahrgang 1910/1911 Nr. 10. 23. Dezember 1910.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« monatlich dreimal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 40 Nummern.
Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt
eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Oewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann,
Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen an.

DIE WINTERAUSSTELLUNG DER BERLINER
SEZESSION
In der Provinz der »Zeichnenden Künste« bekundet das
moderne Sezessionistentum seine engen Beziehungen zur
Tradition. Die Malerei der Lebenden ist von der aller
Früheren prinzipiell geschieden; auch von der Malerei der-
jenigen, die als Vorahner des Pleinair und der Impression
gelten können. Aber in der Zeichnung, in der Anlage
einer Studie, einer Skizze, in der Graphik — ist da ein
ähnlicher Fundamentalgegensatz zu konstruieren? Es gibt
nur eine moderne Zeichenkunst (ohne Anführungszeichen),
die alles Schwarz-Weiß von der Renaissance bis in unsere
Tage umfaßt. Aber es gibt im Grunde keine spezifisch
»moderne« Zeichenkunst (/«Anführungszeichen), die von der
Prämisse einer neuen, vordem unbekannten Art des Sehens
in den letzten Jahrzehnten ausginge. Von Lionardo zuMarees,
vonRembrandt zu Liebermann, von Callot über Goya zu Klin-
ger führen schnurgerade, nichtunterbrochene und unge-
krümmte Linien. Es sind zugleich die drei Grundlinien der
Zeichnung seit der Überwindung der Gotik. Ja, man
könnte sie ohne künstliche Konstruktion auch noch über
die Schwelle der »neueren Zeit« im Historikersinne zurück-
verfolgen. Es ist ein höchst interessantes Problem, daß
sich die zeichnerische Anschauung im Widerspruch zum
Schicksal der malerischen seit Jahrhunderten so wenig ver-
ändert hat.

Diese Stabilität aber bringt zugleich in die Schwarz-
Weiß-Kunst der Gegenwart eine Sicherheit und eine Kraft,
wie sie nur die logische und organische Entwicklung alter
Überlieferungen ermöglicht. In den Sommerveranstaltungen
der Berliner Sezession, wo das Öl herrscht, ist ein gut
Teil Experiment, Projekt, Vorschlag, Tasten ins Unge-
wisse. In den Winterausstellungen gibt es dergleichen
nicht. Im Gegenteil, hier kann man nur eifriges und durch-
dringendes Verarbeiten längst bestehender Prinzipien fest-
stellen, die allerdings — und darin beruht letzten Endes
bei dem, was die Sezession auf diesem Gebiet zu präsen-
tieren hat, doch ein Neues — mit einer vor zwanzig Jahren
unbekannten Intensität ausgenutzt werden. Denn die
moderne Kunst mit ihrem gesteigerten Feingefühl für die
subjektive Abbreviatur, für die Suggestion der Andeutung,
für die Phantasieanregung des Skizzenhaften fühlt sich
naturgemäß zu jenen Prinzipien mit doppelter Zaubermacht
hingezogen.

Es ist darum sehr viel mehr als ein äußerer Aufputz
der Ausstellung, wenn die Sezession jetzt in die Blätter
ihrer Mitglieder, Freunde und Anhänger einen kleinen
historischen Kursus eingefügt hat. Damit wird nur der
Zusammenhang mit der Vergangenheit wieder einmal dem
großen Publikum sinnfällig vor Augen geführt. Es müßte
ungemein reizvoll sein — und man sollte einmal keck den
Versuch wagen —, in einer geschichtlichen Instruktion

solcher Art tatsächlich bis in die Renaissance zurückzu-
gehen, um die Kontinuität der Grundgedanken aufzuzeigen,
welche die Erhaltung und Fortbildung der Zeichenkunst
seitdem bestimmt haben. Man brauchte sich nicht zu
scheuen, zu diesem Zweck die Bestände der öffentlichen
Sammlungen, der Museen und Kupferstichkabinette heran-
zuziehen, die dem großen Publikum viel zu wenig vertraut
sind, und die auch für den Kenner durch die Nachbarschaft
moderner Stücke in eine ganz neue Beleuchtung rücken
würden.

Für diesmal begnügt sich die Sezession damit, ihren
natürlich ganz unsystematischen Rückblick bis zum Jahre
1800 auszudehnen und mit einer Kollektion von Zeichnun-
gen Goyas zu eröffnen, die einer nicht genannten Privat-
sammlung entstammen. Es sind wilde, phantastische, gro-
teske Blätter von unheimlicher Gewalt. Studien zu den
Schrecken des Krieges, zur Tauromachie, Figuren und
Gruppen in schmerzlichen, grausamen Verzerrungen,
Lichter- und Schattenspiele von fabelhafter Kraft. Toller
noch als in den späteren Radierungen wirken in diesen
Vorarbeiten die Schilderungen der wahnwitzigen Mensch-
heit, die sich quält und martert, grandioser noch kommt
der Haß gegen dies, dem Tiertum immer nur halb ent-
wachsene Geschlecht und die königliche Verachtung zum
Ausdruck, die eine große Seele inmitten solchen Hexen-
sabbaths empfindet. Und jeder Umriß und jede Bewegung
ist bei aller Kühnheit des Zusammenfassens von unüber-
trefflicher Lebenswahrheit. Die übrigen historischen De-
monstrationsobjekte sind fast durchweg Frankreich ent-
nommen, das unseren Sezessionisten nun einmal am näch-
sten liegt, und das allerdings für eine Aufzeigung der
folgerechten Kunstentwicklung im vorigen Jahrhundert das
beste Material liefert. Hier stehen in der Ausstellung
voran Steindrucke von Gericault und Delacroix, dessen
Faustlithographien herbeigeholt wurden. Es folgen Karika-
turen von Daumier mit ihren züngelnden, lodernden Strichen.
Dann Radierungsserien von Corot, von Me'ryon, dem ersten,
der die neue Schönheit der modernen Großstadt begriff,
von Alphonse Legros, der die Vermittlung zwischen der
Atzkunst Frankreichs und Englands darstellt — alles Dinge,
die in Deutschland dem Publikum wenig oder gar nicht
bekannt sind. Weiter eine Folge der eigentümlichen Ko-
kotten- und Gesellschaftsszenen aus dem zweiten Kaiserreich
von Constantin Guys. Pastelle von Degas und Renoir, die
weniger Neues sagen. Farbige Lithographien von Maurice
Denis: ein Zyklus »L'amour« von sehr zarter, aber gar zu
weichlich verschwommener Mystik. Preziöse Pariser Skizzen
von Bonnard.

Das übrige Ausland sei hier gleich angereiht. Interes-
sant ist es, einmal etwas von Charles de Groux zu sehen,
dem belgischen Realisten und Historiker der fünfziger und
sechziger Jahre, der in seinem Vaterland nicht ohne Ein-
 
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