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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 22.1911

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St. Petersburger Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.5953#0173

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ACAD. LCSEH.

1-APR1911 •

KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN In Leipzig, Querstraße 13
Neue Folge. XXII. Jahrgang 1910/1911 Nr. 21. 31. März 1911.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst« monatlich dreimal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 40 Nummern.
Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt
eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Oewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A.Seemann,
Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen an.

ST. PETERSBURGER BRIEF
Im allgemeinen liegt eine flaue Stimmung über
unserem Kunstleben. Von dem heißen, zukunfts-
heischenden Drängen und Wogen vor zehn Jahren
ist kaum etwas zu spüren, die damaligen Rufer im
Streite treten einer nach dem anderen ins Schwaben-
alter. Symbolisten ä tout prix würden mit der Ruhe
den im Sommer erfolgten Tod Michael Wrubels,
des Oberhauptes der Modernen von ehedem, nun
in Verbindung bringen, allein Wrubel war von tiefer
Geistesumnachtung umfangen künstlerisch ein toter
Mann seit langen Jahren, obwohl seine Jünger
und deren Nachtreter mit anerkennenswerter Pietät
ihre Ausstellungen mit diesem oder jenem noch
unbekannten Werk des unglücklichen Mannes zu
schmücken pflegten. Sie ehrten damit die eigene
Jugend, denn die Verehrung für den Künstler Wrubel
beruhte auf einem Irrtum. Ein Mann von unendlichen
Einfällen, besaß er kaum das Vermögen der inneren
Bildgestaltung und suchte oft genug vergeblich das
Mangelhafte der Konzeption durch den Riesenmaßstab
der Ausführung zu verdecken. Seine Schilderhebung
bedeutete einen liebenswürdigen Irrtum jüngerer Na-
turen, die stärker waren als er.

Bekanntlich hatten sich die um Wrubel vor zwölf
und mehr Jahren zur Gesellschaft »Mir Iskusstwa«
(Die Kunstwelt) zusammengeschlossen. Ihre Richtung
mit der literarischen Moderne vertrat die gleichnamige
von der Fürstin Tenischew protegierte Zeitschrift und
ihr vielgewandter Manager war Sergei Diagilew, der
zuerst westliche Moderne nach Petersburg brachte,
dann die Petersburger Moderne organisierte und im
Auslande bekannt machte und jetzt mit ebensoviel
Geschick und Gelingen russische Konzerte, russische
Oper und russisches Ballett nach Paris exportiert. Im
Jahre igo5 erweiterte sich der Mir Iskusstwa durch
Anschluß einer Gruppe Moskauer Künstler zum Ssojüs
Russkich Chudöshnikow — dem russischen Künstler-
bunde, dessen Ausstellungen bis zum vorigen Früh-
jahre jede Saison im Zentrum des Kunstinteresses
standen. Aus inneren Spannungen, auf die hier nicht
weiter eingegangen zu werden braucht, kam es im
vorigen Herbst zur Scheidung zwischen der Moskauer
und der Petersburger Gruppe und die Petersburger
vereinigten sich unter der alten Firma: Mir Iskusstwa
— ohne Diagilew und ohne Zeitschrift. Des Manager
und der eigenen Presse kann diese abgeklärte Gruppe

des neuen Mir Iskusstwa gar wohl entbehren, denn
in der Öffentlichkeit hat sie ihren festen Platz erobert,
wohl aber entbehrt unser Kunstpublikum, so dünn
auch seine Reihen kultivierter Leute und solcher, die
es werden wollen, sind, sehr eines leitenden, pro-
grammsichern Kunstorgans und eines zielbewußten
Organisators im Kunstbetriebe. Vielleicht gelingt es
der Zeitschrift Apollon und ihrem Herausgeber Sergei
Makowski zu diesen Rollen zu gelangen, noch aber
hat sich die Physiognomie des Apollon nicht genügend
präzisiert. Makowski debütierte als Organisator mit
der modernen Ausstellung »Salon 1900« in der Hei-
mat trotz schwieriger Verhältnisse recht vorteilhaft und
im Auslande lgio mit der russischen Sektion in
Brüssel, über die ich mangels eigener Anschauung
und einschlägiger Berichte kein Urteil abzugeben ver-
mag. Der »Mangel an einschlägigen Berichten« ist
übrigens charakteristisch dafür, wie kläglich es mit
der Berichterstattung über kulturelle Fragen in den
maßgebenden russischen Tagesblättern aussieht! Die
kleinen Sonderausstellungen, die bisher von der Re-
daktion des Apollon in ihren Räumen veranstaltet
wurden, brachten viel, wenn auch nicht immer, An-
regendes, aber aus äußeren Gründen nur für einen
relativ kleinen Kreis.

Auf der Ausstellung des Mir Iskusstwa fesselte
dieses Mal Nikolai Röhrich ganz besonders. Sein
»Warägermeer« hat sich von dem allzu manierierten
Anschluß an Mosaik befreit und zeigt einen groß-
zügigen, wirklich aufs Monumentale gerichteten Stil
ohne die früher verletzenden Absichtlichkeiten, die oft ge-
nug an zeichnerische Roheit grenzten; hier erfreuen viel-
mehr manche unerwartete kompositioneile Feinheiten.
Das Wuchtige und Markige als herrschendes Element in
diesem Warägerbilde erweist Röhrichs kluge Rechnung
bei solchen monumentalen Aufgaben; hier drängt er das
Feine und Zarte, das einen guten Teil seiner Begabung
ausmacht, bewußt zurück, in den kleineren Bildern aus
Nirgendwo, wie »Der alte König« und »Die Maid
am Meeresstrande« kommt es desto stärker in kompo-
sitioneller und koloristischer Hinsicht zur Geltung.
Neben Röhrich war in erster Linie Mstislaw Dobu-
zynski zu nennen. Auch er hatte ein monumentales
Wandbild ausgestellt: »Peter der Große als Zimmer-
mann auf der Werft von Zaandam«, das für die
Aula des neuen städtischen Volksschulhauses be-
stimmt ist. Die Isolierung war dem Gemälde nicht
 
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