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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 22.1911

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Osborn, Max: Die Neuerwerbungen der Berliner Nationalgalerie
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https://doi.org/10.11588/diglit.5953#0325

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ACAD.LE.SEH.

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- *

KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XXII. Jahrgang

1910/1911

Nr. 40. 29. September 1911.

Die Kunstclironik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« monatlich dreimal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 40 Nummern.
Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt
eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann,
Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen an.

DIE NEUERWERBUNGEN DER BERLINER
NATIONALGALERIE

So leidenschaftliche Debatten die Nationalgalerie
seit vier Jahren in der Öffentlichkeit erregt hat — in
ihr selbst war es während dieses Zeitraumes still und
stiller geworden. Mitunter schien es, als stocke der
ganze Betrieb. Man hörte von keinem Ankauf, von
keiner Bewegung des gesamten Organismus, der wie
in einem Zustand der Betäubung schlummerte. So
war es schon lange, bevor die schleichende Tschudi-
Krisis akut wurde und sich mit Donnergepolter entlud.
So blieb es während des langen Interregnums. Und
auch Ludwig Justi, nunmehr seit zwei Jahren Direktor
der Galerie, hielt sich geraume Zeit völlig reserviert.
Das war sehr klug. Er wollte, daß die stürmischen
Wogen sich erst glätteten, ehe er die allgemeine Auf-
merksamkeit in Anspruch nahm.

Da kam im vergangenen Winter die erste große
Überraschung: das fertige Projekt des durchgreifenden
Umbaus und der sorgsam erwogenen neuen An-
ordnung, bei der die Gemälde und Büsten von vor-
wiegend historischem Interesse anderweitig unter-
gebracht werden sollten. Der Plan erhielt die Ge-
nehmigung der Regierung und des Parlaments, und
alsbald ging man tatkräftig an die Arbeit. Die Schlachten-
bilder hängen bereits seit Monaten im Zeughause.
Die Räume für die künftige Porträtgalerie und die
Sammlung geschichtlicher Bilder werden in der
Schinkelschen Bauakademie eben jetzt hergerichtet.
Und der Umbau des Strackhauses selbst ist längst im
Werke — scheint allerdings (doch das ist ein Kapitel
für sich) auf einen toten Punkt gelangt zu sein und
sich ungebührlich zu verzögern.

Und nun kommt die zweite Überraschung: der
große Rechenschaftsbericht Justis über seine bisherige
Tätigkeit als »Mehrer des Reichs«, das er verwaltet,
die Ausstellung der Neuerwerbungen seit seinem Amts-
antritt, die mit einem Schlage erweist, mit welcher
Energie und welchem Erfolg er vom Dezember 1909
an in der Stille gearbeitet hat. Man war auf ein so
imposantes Resultat nicht vorbereitet; um so stärker
ist jetzt der Eindruck, um so lebhafter die Anerkennung.
Es hat sich in den beiden Jahren Beträchtliches an-
gesammelt, und was wir jetzt sehen, ist eine eigene
kleine Galerie von anderthalbhundert Nummern, deren
Wirkung noch dadurch gesteigert wird, daß sich (bei
dem augenblicklichen Umbauzustand der National-

galerie) der glückliche Gedanke bot, sie in den schönen
Räumen der Akademie der Künste vorzuführen. Dieser
ungewöhnliche Rahmen gibt der Veranstaltung einen
besonderen Glanz und eine Bedeutung, die sie weit
über die üblichen Ausstellungen solcher Art emporhebt.

Das Regime Justi konnte sich nur durchsetzen,
wenn es sich vom Regime Tschudi in wesentlichen
Punkten unterschied. Tschudi hatte vor allem den
Plan, diejenige Aufgabe der Nationalgalerie zu pflegen,
die bei ihrer Begründung als die hauptsächliche vor-
schwebte: daß sie ein Museum der Lebenden, der
zeitgenössischen Kunst sein sollte. Daneben aber
ergab sich ihm während seiner Amtsführung eine
zweite Aufgabe: den älteren Bestand zu revidieren
und zu ergänzen, um so eine dem Stande der For-
schung entsprechende, die weitere Forschung anregende
Galerie der Kunst, vor allem natürlich der deutschen
Kunst, des neunzehnten Jahrhunderts zu schaffen, die
zugleich die natürliche Basis der modernen Sammlung
bildete. Den zweiten Teil dieses Doppelprogramms
konnte Tschudi, wenngleich gegen zahllose Wider-
stände, siegreich durchführen; beim ersten mußte er,
nach einem glorreichen Beginn, dessen Resultate
gottlob unverlierbar sind, bei der Engherzigkeit, die
seit zwanzig Jahren im offiziellen preußischen Kunst-
getriebe herrschte, scheitern. Justi wird sich gesagt
haben, daß sich diese Zustände nicht von heute auf
morgen, sondern nur in langsanier Ausgleichung der
Gegensätze ändern lassen, und daß, wer heute in der
Nationalgalerie positive Arbeit leisten will, zunächst
auf Nr. 1 verzichten und seine ganze Kraft auf Nr. 2
verlegen muß, auch auf die Gefahr hin, dafür den
Vorwurf des Kompromißlertums zu ernten. Jedenfalls
handelte er so. Von den 153 Nummern der Neu-
erwerbungen fallen knapp zehn ins Kapitel der zeit-
genössischen Kunst; der ganze Rest gehört dem
»Museum des 19. Jahrhunderts«, das in der National-
galerie steckt. Diese prinzipiell unmögliche Verteilung
wirkt um so bedenklicher, als die Ankäufe aus dem
Bezirk der Lebenden, wie hier vorweg bemerkt sei,
auch an sich eine schwere Enttäuschung bedeuten.
Wir werden davon noch näher zu sprechen haben;
aber halten wir uns zunächst an das Positive: an die
Erwerbungen älterer Kunst.

Denn hier ist wahrhaft Großartiges erreicht! Man
weiß, daß die Leitung der Galerie auch dabei un-
unterbrochen mit schier unüberwindlich scheinenden
 
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