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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 22.1911

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Neues aus der Alten Pinakothek in München, [2]
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ACAD. LESEH.

28.AUG1911

KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13
Neue Folge. XXII. Jahrgang 1910/1911 Nr. 36. 25. August 1911.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« monatlich dreimal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 40 Nummern.
Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt
eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann,
Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen an.

NEUES AUS DER ALTEN PINAKOTHEK
IN MÜNCHEN
II.

Von Bedeutung für die alte Pinakothek wurde in
der letzten Zeit der Ankauf fünf der Literatur unbe-
kannter Arbeiten Goyas, die nun eine bisher unan-
genehm empfundene Lücke unserer Sammlung in
glänzender Weise ausfüllen. Noch vor zwei Jahren
war Goya hier überhaupt ein Unbekannter und erst
mit der Erwerbung des Stillebens mit der gerupften
Pute wurde den Münchnern durch Tschudi seine Be-
kanntschaft vermittelt. So ausgezeichnet nun dieses
Stilleben ist, so gehört es doch einem Gebiet der
Malerei an, das Goya sonst wenig gepflegt und gibt
keinen Begriff von seiner Bedeutung als Porträtmaler
und Schilderer der Zustände und Sitten seiner Zeit
und seines Landes. Die fünf genannten Tafeln, ein
Bildnis der Königin Maria Louise von Spanien, der be-
rüchtigten Gemahlin Karls IV. und vier kleine skizzen-
hafte Szenen jener grausig mystischen Art, wie sie
den Künstler oft beschäftigten, gleichen diesen Mangel
nun vollkommen aus und lassen Goya in München
besser kennen lernen wie in den meisten außer-
spanischen Galerien. Obenan steht das Porträt der
Königin, das, abgesehen von der ganz außerordent-
lichen Qualität der Malerei, von einer derartigen Cha-
rakteristik ist, daß man sich wundert, wie der Künstler
diesen seinen psychologischen Scharfblick nicht mit
einigen Jahren Gefängnis oder einer noch härteren
Strafe büßte. Selten hat ein Maler mit gleicher Ge-
nialität das innere Wesen seines Modells erfaßt und
mit dem Pinsel festgehalten, selten oder vielmehr nie
mit gleichem Mut die niedrigsten und ekelhaftesten
Leidenschaften in dem Bildnis einer so hochstehenden
Frau auszudrücken gewagt. Wie Dr. A. L. Mayer in
einem kleinen Aufsatz in den Münchener Neuesten
Nachrichten festgestellt, muß das Bild im Jahre 1800
entstanden sein, da die Königin hier das gleiche Kostüm
und den gleichen Kopfschmuck trägt wie auf dem
großen, in dieser Zeit entstandenen Familienbild des
Meisters im Prado. Die vier kleinen Skizzen stellen
einen Zweikampf, einen Verwundeten (unvollendet), eine
Szene aus einer Hexenhinrichtung und eine Mönchs-
predigt dar und sind von jener Delikatesse der Farbe,
die Goya zum wichtigsten Vorbild für Daumier, Manet
und die folgende moderne französische Malerei werden
ließ. Namentlich seine Art, den Wert einer Farbe

durch einen breit daneben gesetzten Kontur zu erhöhen,
tritt hier deutlichst hervor.

Hat Tschudi mit dieser Erwerbung der Pinakothek
zu einem neuen dauernden Besitz verholfen, so handelt
es sich bei der Kollektion Nemes nur um einen Zeit-
raum von wenig Monaten, in dem eine Auswahl aus den
Kunstschätzen des ungarischen Sammlers hier zur Aus-
stellung gelangt. Daß dies gerade in München geschieht,
ist nicht nur für die Stadt, sondern überhaupt für die
Kunstwelt ganz Deutschlands und selbst des Auslandes
von eminenter Wichtigkeit. Budapest gehört zu jenen
Städten, die für die Mehrzahl aller Reisenden links liegen
bleiben und von dem großen Strom, der im Früh-
jahr und Sommer vom Norden nach dem Süden führt,
und von dem ausländischen, der die Tour durch
Frankreich, Schweiz, Italien und Deutschland macht,
nicht berührt werden. Selbst der zünftige Kunst-
historiker kommt viel eher und öfter in die großen
Kunstzentren des mittleren und westlichen Europa,
wie nach der abgelegenen ungarischen Hauptstadt.
Wenn nun also dort lagernde Kunstschätze, deren
außerordentliche Bedeutung jedem Wissenden bekannt
ist, plötzlich an einen Ort gerückt werden, der ver-
möge seiner geographischen Lage und seiner kulturellen
Stellung das Ziel und den Durchgangspunkt fast aller
Reisenden bildet, die Deutschland und überhaupt
Europa kennen lernen wollen, so ist es klar, daß
mit einem solchen Unternehmen dem kunstsinnigen
Teil der Menschheit ein Dienst erwiesen wird, der
gar nicht hoch genug angeschlagen werden kann.
Was uns die Sammlung Nemes, die in dem mit
einer neuen dunkelgrauen Bespannung versehenen
spanischen Saal*) vorzüglich aufgehängt wurde, momen-
tan so besonders wertvoll macht, ist, daß ihr Reichtum
an Werken jenes vielumstrittenen, zum Spanier gewor-
denen Kreters Domenico Theotocopulos uns erlaubt,
zu einem leidlich klaren Urteil über diesen merk-
würdigen Künstler zu kommen, ohne die Grenzen
Deutschlands überschreiten zu müssen. Man hat den
acht Bildern aus dem Besitz des Herrn von Nemes
noch die der Pinakothek gehörige Entkleidung Christi
und als Leihgabe eines ungenannten Kunstfreundes
ein Hauptspätwerk des Meisters, den Laokoon hinzu-

1) Die spanischen Bilder wurden einstweilen im Spät-
italienersaal an Scherwänden untergebracht, die man in
gleicher Weise wie im I. Saal der gotischen Abteilung
zwischen den Fenstern errichtete.
 
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