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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 22.1911

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St. Petersburger Brief
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Verschiedenes / Inserate
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323

Nekrologe

324

günstig, denn sein gelungener monumentaler Charakter
verlangt zu stark nach einer Einspannung in eine
große Wandfläche; seine koloristische Melodie ist ein-
fach, die Durchführung, z. B. des als Dominante wir-
kenden Braun in verschiedenen Nuancen, sehr kom-
pliziert, aber sehr klar durchdacht. Von einer opern-
haften Aufmachung als Historienbild ist natürlich
keinerlei Rede dabei, interessant ist die aus Genialität
und Brutalität gemischte Auffassung des autokratischen
Zimmermannsgesellen, die bei aller Selbständigkeit
nicht ohne Parallelen aus jüngster Zeit dasteht. Ihre
Herkunft wird sicher aus Mereschkowskis Antichrist
abzuleiten sein, dessen wilder Typus die klassisch-
romantische Vorstellung nach Puschkins grandiosen
Konzeptionen abgelöst hat. Von den übrigen Größen
des Mir Iskusstwa fehlte dieses Mal Leon Baket ganz.
Valentin Serow hatte ein völlig unbefriedigendes Por-
trät von D. W. Stassow gesandt und ein feines
Frauenköpfchen, das aber als Skizze doch wenig ins
Gewicht fiel. Unter Konstantin Somows Arbeiten waren
nur zwei Porträtskizzen: der Schriftsteller Fedor Sollo-
hub und der Maler M. Dobuzynski zu nennen, doch
auch diese ließen trotz aller technischen Präzision,
wie sie bei Somow ja selbstverständlich ist, die Leben-
digkeit, die frühere Stücke dieser Serie von Künstler-
und Literatenporträts so anziehend machten, vermissen.
Alex. Benois — ja das alte Lied: Versailles ist unerschöpf-
lich an Reizen, aber toujours perdrix! Ein Dekorations-
entwurf für die Aufführung der Giselle im Grand
Opera wirkte als Durchbrechung der gewohnten Ein-
förmigkeit als wahre Erfrischung, obwohl man nach
Stärkerem suchte. Boris Kustodijew verleugnete seine
gewohnte Ungleichmäßigkeit auch dieses Mal nicht.
Zwei Porträts, Senator Taganzew und Bankdirektor
Bark, waren so furchtbar brav und ach so langweilig,
als wenn sich aus diesen beiden bedeutenden
Charakterköpfen wirklich nicht mehr herausholen
ließe. Das Bildnis einer jungen blonden Dame in
hellblauem Kleide im Freien schien irgendwelche
koloristischen Feinheiten zur Absicht gehabt zu haben,
in der Ausführung ließen sie sich nicht erkennen.
Ist diese Kälte und Gleichgültigkeit bei Kustodijew
als Gemütssache zu erklären? Wo man es ihm an-
merkt, daß sein Gemüt bei der Arbeit war, tritt sein
Können auch mit aller Deutlichkeit hervor: in der
intimen farbenfeinen Ecke aus seinem Landhause und
den ganz entzückenden Porträtzeichnungen nach seinen
Kindern. B. Anisfeld führte recht viel vor, doch nichts
Erquickliches — Farbenanhäufung intensiv und quan-
titativ machen noch keinen Kolorismus aus, nur ein
Stückchen: eine Strandlandschaft mit prächtig rollen-
den Wogen ließ ganz andere Gefühle aufkommen.
Jan Ciaglinski brachte indische Reisestudien in seiner
gewöhnlichen andeutenden Manier, doch seine Stärke,
die Impression südlicher Farbe und tropischen Lichtes
zu erfassen, dokumentierte sich in ihnen nicht. Das
Porträt des Pianisten Leopold Godowsky litt noch
mehr unter Ciaglinskis fragmentarischer Vortragsweise
als sonst bei seinen Bildnissen üblich. Unter den
Debütanten der Ausstellung, die juryfrei ist und durch
Kooptation die Teilnahme eröffnet, fand sich manch

krauser Geist, den man nicht gern in so guter Ge-
sellschaft gesehen hätte. Mag man auch noch so
hoffnungsvoll für Jüngere gestimmt sein, die Allzu-
grünen ließe man besser vor der Tür, wenn man
Elite repräsentieren will. Ganz günstig hatte es der
Mir Iskusstwa dieses Mal mit dem Lokal getroffen,
den Sälen des historischen Palais Menschikow, jetzt
Erstes Kadettenkorps, die Sergei Makowski vor zwei
Jahren für Ausstellungszwecke entdeckte. Diese Ent-
deckung war sehr erfreulich, denn an Ausstellungs-
lokalen herrscht eine wahre Misere. Die Akademie
der Künste berät seit Jahren Pläne zum Bau eines
Kunstpalastes und glaubte im Zentrum der Stadt einen
Platz sich gesichert zu haben, allerhand formelle und
konstitutionelle Bedenken scheinen indes die Angelegen-
heit wieder aufschieben zu wollen.

Während man daheim sich schlecht und recht
mit dergleichen Dingen abfindet, rüstet sich die rus-
sische Künstlerschaft dazu, auf der Römischen Kunst-
ausstellung geschlossen vor die Welt zu treten — ein
Unternehmen, das offensichtlich von einschneidender
Bedeutung sein wird. Der Generalkommissar der
russischen Abteilung Graf Dmitri Tolstoi, Direktor
der Eremitage und Vizechef des unter großfürstlicher
Oberleitung stehenden Alexandermuseums, bietet durch
seine Persönlichkeit ebenso wie durch seine amtliche
und gesellschaftliche Stellung in unserer Kunstwelt
die volle Garantie dafür, daß ein objektives, besonders
unsere Modernen gebührend achtendes Programm und
eine qualitativ hervorragende Auswahl die Grundlage
des Unternehmens bilden. Als Gehilfen stehen dem
Generalkommissar die Herren Th. Baerenstamm und
Emil Wiesel von der Akademie der Künste zur Seite.
Ihr Material mußte die Abteilung aus Privatbesitz zu-
sammensuchen, da eine Hergabe von Werken aus
unseren beiden modernen Galerien ausgeschlossen war.
Der Appell an die Opferwilligkeit unserer Sammler
hat vollen Widerklang gefunden.

Anders, und mit Recht anders, denkt man über
das Herleihen von Gemälden alter Meister, um die
sich jetzt Italien für seine beiden Retrospektiven
in Florenz sehr bemüht hat. Man ist der ständigen
Gastspielreisen unserer alten Schätze müde und fürchtet
immer mehr Transport- und Feuersgefahr, denn das
ideelle Risiko wird doch durch keine Assekuranz ge-
deckt. Schließlich ist es für Rußland auch nicht mehr
wie billig, den Besuch der Kunstinteressenten aller
Länder und Zungen bei sich zu erwarten, wo doch
heutzutage selbst die Reise um die Welt in weniger
als achtzig Tagen notwendig über Petersburg und
Moskau führt.

Aus dem Leben unserer Museen wäre manches
Erfreuliche zu berichten, momentan aber harrt noch
zu vieles des Abschlusses, darum sei dieses Kapitel
für heute übergangen. ^chm—

NEKROLOGE
Nachdem die Archäologie eben erst den Verlust Puch-
steins zu beklagen hatte, ist ihr wiederum ein bedeutender
Forscher durch den Tod entrissen worden: Reinhard Ke-
kule von Stradonitz ist am 24. März in Berlin gestorben.
Mit ihm ist ein feinsinnigerOelehrter und gründlicher Kenner
 
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