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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 22.1911

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Schmidt, Karl Eugen: Pariser Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.5953#0198

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Pariser Brief

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erträumten Gefilde der Seligen, algerische Beduinen-
pferde oder eine Pariser Theaterloge malte. Jetzt
scheint er die Nichtigkeit solcher eiteln Augenfreuden
erkannt zu haben und wirft sich auf die Philosophie.
Die großen dekorativen Aufträge, die er seit einigen
Jahren von den Behörden des Staates und der Haupt-
stadt erhält, benutzt er dazu, das Publikum in die
Rätsel des Daseins einzuführen, oder vielmehr ihm
Rätsel aufzugeben, und was ihn früher in erster Linie
beschäftigte, das Spiel der Farben und des Lichtes,
kümmert ihn heute nur noch nebenbei. Jetzt zeigt
er einen Plafond für das Theätre francais, der Adam,
Eva, die Schlange, Racine, Corneille, Moliere, Victor
Hugo und mehrere weibliche Gestalten von zweifel-
hafter Deutung zusammenbringt und ohne Zweifel
irgend eine große und tiefe Lebenswahrheit in sich
birgt. Vor dreihundert Jahren, als diese Allegorien
besonders im Schwang waren, besaßen die Maler und
Stecher Zuvorkommenheit genug, um ihren Gestalten
Zettel in die Hand zu geben, worauf man lesen
konnte, wer sie seien und was sie wollten. Den
Leuten, die in'den Zwischenakten die Decke des
Theätre francais beschauen, wären ähnliche Erläute-
rungen vielleicht nicht unerwünscht.

Auch Gaston La Touche wiederholt sich, denn
er bringt uns jetzt die famose rote Kutsche wieder,
die seiner Zeit auch in den »Meistern der Farbe«
abgebildet war. Damals fuhr sie fröhlich durch einen
herbstlich vergoldeten Park, auf dem Bock der Postil-
lion, darin ein verliebtes Paar, auf dem Rücksitz ein
Faun. Diesmal ist die Sache komplizierter: die Kutsche
fährt durch einen Weiher, nackte Nymphen schieben
und heben, auf dem Rücksitz steht ein orientalischer
Heiduck mit einem meterhohen roten Turban. Es
ist Sommer, und der blaue Himmel, die grünen
Bäume gehen lange nicht so prächtig zusammen mit
dem knallenden Rot der Kutsche wie seinerzeit das
bunte Herbstlaub.

Um seine eigne Meinung recht zu verstehen und
zu klären, — und was kann man schließlich weiter
tun als seine eigne Meinung äußern? — muß man
mit dem Gedanken die Ausstellungen durchwandern:
Was möchte ich davon kaufen oder, wenn das nicht
geht, was möchte ich stehlen? Es ist zumeist wenig
genug, für dessen Besitz man die Berührung mit dem
Staatsanwalt riskieren möchte. Kaufen aber würde
ich mir im diesjährigen Salon, wenn ich das nötige
Geld hätte und, was eigentlich das nämliche ist, die
genügend großen und weiten Wohnräume besäße,
erstens die blaue Tänzerin von Claudio Castelucho
und zweitens den »Sommertag« von Martha Stettier.
Die blaue Tänzerin hat es mir angetan. Wie es sich
gehört bei der Arbeit eines Mannes, der den Mit-
gliedern der Societe nationale nicht nachläuft, um
Associe oder gar Societaire zu werden, hat man sie
in das Treppenhaus gehängt, wo man entweder mit
der Nase auf der Leinwand oder aber dreißig Meter
entfernt davon steht. Indessen muß man sich über
solche Kleinigkeiten nicht aufregen: vor vier oder
fünf Jahren schickte Wilhelm Trübner einige Bilder
in den nämlichen Salon, und sie wurden unten im

Erdgeschoß bei den Plänen der Architekten unter-
gebracht, wo sie gewiß kein Mensch gesucht hätte,
und wo sie keinem Societaire gefährlich waren. Im
allgemeinen muß man konstatieren, daß die Maler,
die sich über schlechtes Hängen ihrer Sachen so
schwer ärgern, nicht gerade Halbgötter sind: wirklich
gute Sachen kommen sogar in schlechter Lage zur
Geltung, und so geht es auch der blauen Tänzerin
Casteluchos, das wohl die beste und prächtigste Ar-
beit dieses jungen Meisters ist. Übrigens hängt auch
der »Sommermorgen«, nach dessen Besitz mich eben-
falls gelüstet, im Treppenhaus ebenso ungünstig wie
die Tänzerin. Trübner stellt nicht mehr aus in Paris,
sonst wäre er gewiß auch an diesem Platze, also daß
die Treppe zum Ehrensaal geworden wäre.

Ferner würde ich, wenn ich die größten Säle und
den dito Geldbeutel hätte, mir die »Versuchung des
heiligen Antonius« von Willette zueignen, obschon
aus ganz anderen Gründen als die beiden genannten
Bilder. Castelucho und Stettier sind Maler, Willette
ist Erzähler der amüsantesten und humorvollsten Ge-
schichten, und die Art, wie der Heilige nach den
Reizen der beiden kleinen Midinettes schielt, während
ein Amorchen das Schweinchen, welches den Heiligen
zu begleiten pflegt, mit einem festen Strahl aus einer
Flasche kohlensauren Wassers attackiert, gefällt um so
mehr, als das Bild entzückend gezeichnet und sehr
angenehm in der Farbe ist. Zwar hat Willette hier
zwei verschiedene heilige Antonii mit einander ver-
mengt, aber das tut der Lustigkeit keinen Abbruch.
Auch eine der Landschaften von J. J. Gabriel, in
welchen die stille Freude an der Natur sich mit de-
likatem Farbensinne vereint, hätte ich ganz gerne
unter den Mantel genommen und heimlich von dannen
getragen. Und so würde sich vermutlich bei ge-
naue™ Durchstöbern der Säle noch manches Bild
finden, das man gerne bei sich daheim an der Wand
hängen hätte, obgleich man sich schwerlich mehr als
ein Prozent der ausgestellten 1300 Bilder auswählen
würde.

Es ist merkwürdig, wie in unserer Zeit die Malerei
zur vornehmsten oder doch zur beliebtesten und
populärsten Kunst geworden ist, vermutlich weil man
hier am leichtesten allgemein verständliche Anekdoten
erzählen kann. Was sind heute die Architekten, die
in der Renaissance zum mindesten neben, wenn nicht
über die Maler gestellt wurden? In Paris, der inter-
nationalen Kunsthauptstadt, existieren sie überhaupt
nicht, und wenn wir nicht Rodin hätten, der sich
auf die Kunst der Reklame mindestens ebenso gut
versteht wie auf die Plastik, könnte man sicherlich
nicht einen einzigen lebenden Bildhauer nennen, dessen
Name in breiten Schichten des Publikums so bekannt
wäre wie die von einem guten Dutzend Malern. In
der Societe nationale zumal müssen die Bildhauer
zurückstehen, schon aus räumlichen Gründen. Den
Bildhauern sind nur der kleine, sehr schlecht be-
lichtete Kuppelraum und die noch dunkleren Treppen-
hallen überlassen, und so ist es natürlich, daß die
Bildhauer lieber bei den benachbarten Artistes francais
ausstellen, wo viel Raum und gutes Licht ist. Trotz-
 
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