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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 22.1911

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Waldmann, Emil: Perspektive und Körpermodellierung in der minoischen Wandmalerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.5953#0262

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499 Perspektive und Körpermodellierung in der minoischen Wandmalerei 500

Haare, welche sich bei Raubtierleibern an den Weich-
teilen finden, sind zu einem regulären Ornament um-
stilisiert — etwas was im Umkreise dieser Kunst durch-
aus nichts Ungewöhnliches ist.

Zur Perspektive.

Zur Frage, ob diese minoischen Künstler in ihren
Malereien nun gelegentlich auch die Raum- und Linear-
perspektive angewandt hätten, hat Heinrich Sitte in
den Jahresheften des Österreichischen archäologischen
Instituts (Band XII. 1909. S. 305 ff.) einen Aufsatz
geschrieben »Zum Sarkophag von Haghia Triada«
(mit Einzelabbildungen; Farbentafeln siehe bei Peri-
beni a. a. O.). Er zieht für seine Ansicht besonders
das Bild der einen Langseite heran, das mit seinen
sieben Figuren von einigen Forschern für die Darstel-
lung eines Totenkultes, von anderen für eine Götter-
szene gehalten wird. Auf diesem Gemälde befinden
sich links zwei hohe auf stufenförmiger Basis stehende
Pfeiler, grün umwunden, welche die zwiefache Doppel-
axt tragen, von ruhenden Vögeln bekrönt. Zwischen
diesen Pfeilern etwas hoch gerückt steht auf einer
kleinen Basis ein großer zweihenkliger Mischkrug, in
den eine Frau eine Spende gießt. Die Henkel sind
ungleich in der Form, der eine rund, der andere mehr
oval; die Pfeiler sind ungleich hoch, der eine ragt
über den oberen Bildrand empor. Aus diesen Grün-
den, und weil die spendende Frau mit ihren Armen
von dem einen Pfeiler überschnitten wird, soll der
Maler hier seine richtige Beobachtung vom Hinterein-
ander der Dinge nicht wie sonst üblich und wie er
es gelegentlich auch sonst auf diesem Sarkophag selbst
getan hat, als einfaches Nebeneinander gegeben haben,
sondern in Schrägansicht. Damit hätte er dann die
Raumperspektive versucht.

Doch diese Ansicht läßt sich nicht halten. Einmal
sind die Basen der beiden Pfeiler genau gleich hoch
und in vollkommener Vorderansicht. Und ferner ist
durchaus ersichtlich, das der Mischkrug, der da am
Boden steht, einfach der größeren Deutlichkeit halber
hochgerückt ist, so, wie an einer anderen Stelle z. B.
ein Korb einmal in die Luft gesetzt wird. Die Un-
gleichheiten in der Pfeilergröße und in der Ansicht der
Henkel muß man eben doch aus dem Platzmangel
erklären, die eine Doppelaxt ist so hoch gerückt, um
Raum zu schaffen für den Kopf der sich bückenden
Frau, welche die Spende ausgießt, und der Mischkrug
ist eingeklemmt zwischen die beiden Pfeiler. Daß
tatsächlich bei dieser Zeichnung der Platzmangel maß-
gebend war, sieht man daran, daß die am Rande des
Bildes befindliche Basis schmäler ist als die andere,
was auch Sitte nicht entgangen ist. Und wenn er
meint gegen eine solche Erklärung spreche die ge-
naue Vorzeichnung an den Pfeilern in gelber Farbe,
so ist dem entgegen zu bemerken, daß es sich gar
nicht um eine Vorzeichnung unter dem Kontur handelt,
sondern vielmehr um das Durchschimmern der gelben
Grundierung, die sich auf dem ganzen Bilde feststellen
läßt. Bei dem Auftragen der dunklen Deckfarbe ist
der Maler nicht ganz sorgsam gewesen, sondern hat
gelegentlich etwas Grund stehen lassen. Schließlich

führt die ganze Frage auch in die der Qualität hinein.
Der Sarkophag zeigt nicht die Malerei des besten
Stils, wie ihn etwa das Katzenfresko aus Haghia Triada
und das äußerst gut gezeichnete Miniaturfresko mit
der Ansicht des knossischen Palasthofes (Abb.: Jour-
nal of Hellenistic Studies. 1901. Tafel V. Fragment,
farbig, und Pfuhl, griechische Malerei Tafel L Abb. 1
und 2) repräsentieren, sondern ist entschieden flüch-
tiger und oberflächlicher. Der Künstler des Sarkopha-
ges, der um etwa 1500 arbeitet, legt auf haarscharfe
Genauigkeit nicht allzugroßen Wert. Auch sonst kam
es ihm nicht so darauf an, wenn einmal ein Kopf
den oberen Bildrand überschneidet: Auf dem gleichen
Bilde sieht man einen Frauenkopf, der die obere Ein-
fassungslinie um ein Beträchtliches überragt. Er war
eben doch, trotzdem der Sarkophag an sich in kost-
barer Technik hergestellt ist, im Vergleich zu den
großen Meistern dieser Kunst das, was im Verhältnis
zu den attischen Meistern des Dipylonstiles ein gleich-
zeitiger guter Böotier war. —

Einen weiteren bemerkenswerten Versuch von
Linearperspektive sieht dann Sitte in dem Fragment
eines Wandgemäldes von Haghia Triada, das eine sich
eben auf ihren Sitz niederlassende oder von ihm sich
erhebende weibliche Gestalt zeigt (farbige Abbildung
in Halbherrs Aufsatz, Monumenti antichi XIII. 1903.
Tafel X). Hier soll die Sitzfläche perspektivisch in
die Tiefe des Raumes verlaufend gezeichnet sein, in
starker unleugbarer Verkürzung. Vor dem Original
ist auch bei eingehendster wiederholter Prüfung heute
nicht mehr festzustellen, was die geometrischen für
einen Thron ausgegebenen Formen eigentlich vor-
stellen sollen. Auch die Bewegung des Aufstehens
ist nicht klar, es handelt sich vielmehr um die typische
auf minoischen Monumenten sehr häufige Stellung
auf den Fußspitzen mit herausgedrücktem Gesäß, die
ein Sichbücken oder gar eine Tanzbewegung sein kann.
Was nun das schräg laufende Sitzbrett anbetrifft, so
ergibt eine genaue Untersuchung des durch Brand
arg mitgenommenen Originals, daß hier, wie an so
vielen anderen Stellen, die dunklere Deckfarbe von
der hellgrauen Untermalung abgeplatzt ist; was als
diagonaler Streifen wirkt, ist ein Stück der nachträg-
lich wieder zum Vorschein gekommenen Grundierung.

Geht man alle in Betracht kommenden Beispiele
vor den Originalen genau durch — und hier kommen
wirklich nur die Originale in Betracht — so kommt
man zu der Ansicht, daß Raum- und Linearperspek-
tive sowie schattierende Körpermodellierung in den
minoischen Malereien nicht angewandt wurden, so-
weit wir heute wissen, auch ausnahmsweise nicht.
Was so aussieht oder so aussehen kann, ist auf Rech-
nung des schlechten Erhaltungszustandes, der dekora-
tiven Gepflogenheiten der Zeit und der mitunter flüch-
tigen Ausführung zu setzen. —

Wohl kommt es in solcher Kunst vor, daß hie
und da einmal ein Künstler die Konventionen seiner
Schule durchbrechen will und seine frische Naturbe-
obachtung, das was ihm als Wahrheit erscheint, in
die Darstellung auf der Fläche übernimmt. Es gibt
solche, wie Riegl es nennt, »Anachronismen«. Sogar
 
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