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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 39,2.1926

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Heft 12 (Septemberheft)
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Schumann, Wolfgang: Liebe
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https://doi.org/10.11588/diglit.8000#0377

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wuchsen, deren Keime man zuvor selber gesät hatle. .. Die neuere Entroicklung der
Lebensverhältnisse der Jugend ist indes im Begriss, nach dem eigentlichen Familien-
kult nun auch die ihn überlebende Konvention zu zerbrechen. Daß Kindesliebe millionen-
mal einen geschlechtlichen Antrieb enthält unö insofern versteckt begehrlicher Natur
ist, ist so bekannt tvie das Umgekehrte, daß Kinder in begrenztem Sinn als Ersatz-
objekt sür sreigewordene erotische Triebe empsunden werden. Aber nicht nur in
diesem Sinne ist Elternliebe nicht durchgehends „rein". Auch von öer Erwachsenen-
seite her ist daS Familienverhältnis ein mindestens biologisch-pspchologisch zweckhast-
nützliches, viclfach aber auch in sozialem Sinne: Es hilst immerdar den Geselligkeit-,
Geltung- und Machttrieb, unendlich ost auch den Selbsterhaltungtrieb besriedigen.
Dennoch soll nicht geleugnet werden, daß das Eltern- und Kinderverhältnis nicht selten
auch echte Liebe erweckt und dem Bewußtsein nahebringt. Liegt doch der Trieb nach
Liebe nicht ties verborgen im Jnnern des Menschen, sondern leicht weckbar in jeder
Brust. Unsehlbarer als das Famiüenoerhältnis lockt das geschlechtliche Erlebnis Liebe
hervor. Menschen, die in zwei, drei, vier Aahrzehnten ihreS Daseins nicht „begrissen",
öas heißt, nicht erlebt haben, was Liebe ist, ersahren es im Feuer geschlechtlicherErregung,
erahnen es vielleicht an der Schwelle des GreisenalterS noch, wenn Begehren sie
plötzlich zum Du getrieben hat. Unzählbar häufig aber vollzieht sich im „Erwachen"
der Geschlechtlichkeit, ost kurz vorher und die „Reife" mehr ankündigend als voll-
endend, das Erwachen der Liebe als erstes Erlebnis der selbstlosen Dienstschast oder
Dienstbereitschast. Fast regelmäßig bleibt es sreilich bei slürmischen Ahnungen und
des ZieleS ungcwissen Wollungen, bei einer blinden Hocherregung und mit den ersten
Besriedigungen des GeschlechtStriebeS absinkenden Assekten. Die in hunderttausend
Gedichten besungene „erste Liebe", überhaupt die vom Geschlechtstrieb erweckte Liebe
isk m'cht unecht, doch sie ist in Gesahr, zu vergehen, bevor sie noch Frucht gebracht
har, bevor sie ihrem Trägcr „in Fleisch und Blut" übergegangen ist, bevor sie zum un-
verlierbarcn, wesenverändcrnden Zustand geworden ist; aber aus öiese Dergänglichkeit
erotisch geborener Liebe gründet sich Schopenhauers enge und salsche Hypothese,
die nur richtig scheint, sofern man allein diesen Typus von Liebe betrachtet.

Nicht ost herrscht Liebe in einem Menschenkind von Anbeginn seines reiseren Lebens
an ununterbrochen vor. Millioneu sterben dahin, die ihr ganzes Erdendasein hindurch
von Liebe nichts, Millionen, die von ihr nur eine aufdämmernde Ahnung ersahren
haben. Die sie aber kennen und von ihr wahrhaft ergrissen sind, die hat sie zumeist
in mehreren Anläusen aus verschiedenen Anlässen in Besitz genommen. Was sie
dadurch wirklich erleben, ist schwer mit wenigen Worten zu sagen. Das erste ist
ein Weitwcrden des Blickfeldes. Niemand, öer dieS nicht erfahren hat, kaun vorher-
denken, wie anders die Welt dem Liebenden erscheint als dem Nicht-Liebenden. Den
zuvor Zwecke und Jnteressen beherrschten, beherrscht nun der Trieb zum selbstlosen
Dienst. Wo sich zuvor das Leben alü natürlicher Kämps der Jnteressen darbot,
erscheint eö nun als gcsetzmäßiger Ablaus, innerhalb dessen jener gewaltige Kamps
eine der vorläusigen Übungen und Gewohnheiten des menschlichen Geschlechts be-
deutet. Wo vorher Fremdheit, Gleichgültigkeit, unerschließbare Objektsülle war, ist
nun vertrante, sessclnde, leicht verstandene Welt. Licbe ist kein hitziger, nach Monat-
vdcr Jahressrist erlöschender Assekt; sie ist ein neuer Stand des Wesens, eine „Reli-
gion" im Ursinn des Wortes: neue „Berknüpftheit" mit All und Menschtum. Mit
All und Mcnschtum; denu ihr ureigentlicheS Objekt ist nicht Der odcr Jener, nicht das
oder der odcr die Einzelne, sondern Alle und AlleS. Wer wahrhaft licbt, liebt Stern
und Blüte, Stein und Weib, Mann und Pslanze, Tier und Kind, Wind und Meer,
Erde und Himmel. Und er will dienen. Ungern, gleichsam widerwillig uur, dient er
dem selbstischen Jntcresse des Andern, das er als vorläufig und als zuletzt sinnloü
durchschaut. Seinc Dienstfreudc gilt der Erfüllung des Gesetzes, wo und wann nötig,

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