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ist hier dem Verfasser gelungen, ein paar Typen überraschend
körperlich hinzustellen. Der alte fürsichtige Superintendent;
der weltklug-gewandte Badesaison-Kanzelheld Polani; der
grüblerische Diakonus Fröschel, der seiner orthodoxen Mutter
zulieb im Amte bleibt aber schließlich zum Selbstmord kommt;
der banausische Dornig; der ehrwürdige greise Gebirgspfarrer
Valentin; dann von Frauen aus diesem Kreise jene Mutter
Fröschels und die arbeitstreue junge Diakonissin und die
herzensgute alte Herrnhuter Jungfer, die das Bekehren und
das Ehestiften gar freudig verbindet — sie alle sind Gestalten
von so überzeugender Lebenswahrheit und so zwingender An-
schaulichkeit, daß sie die dichterische Bedeutung des Buchs fester
begründen, als die Darstellung des Helden und seiner nur in
ziemlich konventioneller Zeichnung wiedergegebenen Braut.
Wir scheiden von dem unzweifelhaft über den Durchschnitt
unsrer heutigen Zeitromane hervorragenden Werk mit einer
Bitte an den Verfasser: er wolle in Zukunst etwas mehr,
als geschehen ist, Flüchtigkeiten in der Sprache vermeiden.
Das gewöhnliche Publikum der Leihbibliotheken mag ja durch
solche nicht sehr gestört werden: die anspruchsvolleren Leser,
an die sich doch Polenz mit seinem jüngsten Buche wendet,
empfinden es beinahe als eine Unhöflichkeit, wenn ihnen gerade
an der seierlichsten Stelle des ganzen Werks Sprachgebilde
wie „ein schwarzseidenes Kleid von schlichter Faoon," „sehr
aufgeregt gerirte sich Martha," „kaum im Stande, ihre Ge-
fühle zu kontroliren" zu dreien auf einer Seite vorgesetzt
werden. Die „bestbesuchteste" Sitzung, die „reich dotirtesten"
Pfarrstellen, die „abgelegendsten" Gebiete verschwinden hoffent-
lich auch bei einer neuen Auflage.
Tbeater.
* Mlicbttgere Zcbausptel-AuMbrungen. XLVI.
Ein Schauspiel vonFriedrichLange, „der Nächste," erregte
aus der Neuen Freien Volksbühne die lebhaste Teilnahme der un-
verbildeten Zuschauer. Den Gang des Stückes mag der folgende
Bericht andeuten: „Pastor Heinrich Lorenz lebt in einem nie-
dersächsischen Dorfe. Er ist begabter, als der Durchschnitt um
ihn, ein seiner, kritischer Kopf. Zwei andere Vertreter seines
Standes leben neben ihm. Ein alter Geistlicher, der die
Rebellion in der Seele des Amtskollegen Lorenz wohl begreift,
aber als Bürger einer älteren Welt, als kompromißliebender
Mann des Friedens ihm in seinen Entschlüssen nicht mehr zu
solgen vermag; und ein junger Theologe, ein halb verbummelter
Student, der gerade genug geistige Anlage hat, um so»lebens-
klug« zu sein, sich den Mantel der Orthodoxie umzuhängen
und so nach einer »auskömmlichen Psründe« zu krebsen. Dieser
Pastor Lorenz steht zugleich zwischen zwei Frauen: einer
hingebungsreichen Mädchennatur und einer berauschenden
Dame, die sich selbst gerne erhitzt, aber vielleicht zu blutarm
und dabei zu sehr gewitzigt ist, um am Ende zu gewähren,
was sie verheißen hat. Doppeltes nun hat Pastor Lorenz
durchzumachen. An ihn treten soziale und rein persönliche
Ausgaben heran. Jn seinem Pfarrdors herrscht Herr Behagen,
ein Jndustriefürst. Der Pastor empfindet mit den Arbeitern
dieses kleinen Fürsten, er sieht ein, warnm ihre Kirchen-
gläubigkeit schwinden mußte. Sind einmal seine inneren
Zweifel erwacht, so wird er zu weiteren Konsequenzen getrieben.
Während einer Strikebewegung kommt zum Durchbruch, was
in ihm schon lange verschloffen war. Der Pastor schlägt sich
zu den Arbeitern, da er einsieht, daß alle Kompromiß-
bestrebungen sruchtlos sind. Er wird nun geächtet von den
Vertretern der Bourgeoisie. Herr Behagen, der Landrat und
selbst der Jude, der die Brocken aufliest, die vom Tische der
Großindustrie sür ihn abfallen, sallen über ihn, den Erzrevo-
lutionär, her. Endlich noch trifft ihn der herbste Lebensschmerz
Das Mädchen, das an ihm mit Nerv und Seel gehangen, geht
freiwillig in den Tod, da es meint, daß des Pastors Herz
doch an der stolzen Nebenbuhlerin hinge. Für den Nächsten
sich zu opfern sei ein seliges Beginnen, das vermeint nun
Pastor Lorenz zu erkennen, und nicht genug erscheint es ihm,
sympathische Teilnahme für die Arbeiter bewiesen zu haben,
er will das Kreuz auf sich nehmen und ihnen gleich will er
werden. Er will ein Arbeiter leben unter Arbeitern und so
mitarbeiten an dem Reich des Erbarmens, an dem Reich der
Zukunft." Lange verficht mit seinem Drama als begeisterter
Vorkämpser die Anschauungen, die er als Herausgeber der
„Täglichen Rundschau" so unermüdlich entwickelt, verteidigt
und verbreitet — sein Stück darf nicht allein vom künstlerischen
Standpunkte aus beurteilt werden. Aber auch eine Beurteilung
nur von diesem Standpunkte aus dürfte sich des Werkes freuen.
Eine Gefahr drohte der Wirkung nach dem Berichte Julius
Harts aus der Verbindung einer sozialen nnd einer rein per-
sönlichen Handlung, der Seelenkänrpfe des Helden wegen des
„Nächsten" und jener wegen seines Liebeslebens — eine
Gefahr, die auf der Bühne noch größer war, als beim Lesen
des Buchs, denn „die kräftigeren Laute der politischen Leiden-
schaften" mußten dort zartere Klänge leicht übertönen.
Ein neues schweizerisches Nationalschauspiel, „Winkelried"
von Adols Frey, wurde in Zürich ausgeführt. Die uns
vorliegenden Berichte erklären den rein dichterischen Wert des
Stücks sür viel bedeutender, als seine Bühnenwirkung war.
„Wohl alle", schreibt z. B. der Kritiker der „Basler Nach-
richten," „die Adolf Freys historisches Tranerspiel vorher
kannten, und, wie wir, wohl mit ungeteiltem Genuß gelesen
haben, waren bei der Aufführung mehr oder weniger enttäuscht.
Nicht nur, daß Dutzende von Versen, die man ihrer herrlichen,
volltönigen Sprache und ihrer Gedankentiefe wegen immer
wieder gern lesen wird, auf der Bühne spurlos vorüber
gingen, nein, in verschiedenen Szenen, ja in ganzen Akten,
wie im merklich abgefallenen zweiten, auf dessen Bühnen-
wirksamkeit man zum Voraus hätte schwören mögen, ließ der
Dramatiker den lyrischen Poeten sataler Weise im Stich."
* Lur Ikenntnis der Tbeatersklaverei haben wir
vor drei Jahren einen Aufsatz (Kw. II, 2x) von Georg
Köberle gebracht, in dem der srühere Generaldirektor der
Karlsruher Hosbühne insbesondere die Theateragenten unsrer
schönen Gegenwart sach- und sachkundig besprach. Die Miß-
stände, die hier vorliegen, Mißstände, von deren Größe sich
wenige eine Vorstellung machen, weil die Machtmittel der
Herren auch unsre berühmte „gedruckte öffentliche Meinung"
zu der so viel gerühmten Duldsamkeit im weitesten Maße ver-
anlaßt haben, — sie beginnen doch endlich die Regierungen
zu beschästigen. Das preußische „Ministerialblatt für die
innere Verwaltung" veröffentlicht eine Zirkularverfügung, welche
die Minister des Jnnern und sür Handel und Gewerbe be-
züglich der Überwachung der Theater-Agenturen erlaffen. Es
sei eine Reihe von Fällen bekannt geworden, heißt es darin,
in denen die Theater-Agenturen die sich ihrer Vermittlung
bedienenden Personen ausgebeutet, deren wirtschaftliches und
künstlerisches Leben sich dienstbar gemacht und weiblichen
Klienten gegenüber die Gebote der Sittlichkeit verletzt haben.
Auf solche Vorkommnisse sollen nun die Polizeibehörden ihre
Ausmerksamkeit hinlenken. Ergeben sich begründete Zweifel
gegen die Zuverlässigkeit eines Theateragenten, so soll der
Sachverhalt nach Möglichkeit klargestellt und gegen den Schul-
digen nachdrücklich vorgegangen werden; geeignetensalls soll
die Klage auf Untersagung des Gewerbebetriebs beim Bezirks-
ausschuß angestrengt werden. Zur Beurteilung der Frage, ob
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