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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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1. Heft
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Ettlinger, Karl: Der Werdegang einer Sängerin, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0018

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MODERNE KUNST.

Bühne in ihr, seit sie in
einem Schaufenster die Pho-
tographie des ersten Helden-
tenors gesehen hatte.
Allein ihr hartherziger
Vater drohte ihr mit Ent-
erbung, die Mutter kündigte
ihr die Lösung der Ver-
wandtschaft an, die Ge-
schwister verfluchten sie —
das macht zusammen drei-
zehn Flüche, und diesem
Schicksalsschlage war die
nunmehr Zwölfjährige doch
nicht gewachsen. So trat
die Göttliche als Lehrmäd-
chen in eine Wäscherei ein,
allwo sich oft genug ihre
Tränen mit dem Seifen-
wasser mischten.
Ihre Sangeslust aber
behielt sie, und gar oft
schmetterte sie das hohe Fis
hinaus, während das Bügel-
eisen in ihrerHand ein tiefes
Loch in die Wäsche sengte.
Denn sie hatte Talent.
EinesTages erfüllte sich
ihr Schicksal, als sie gerade
mit ihren Kolleginnen die
Wäsche der Familie Meyer (Nettelbeckstraße 93, eilt sehr!) aufhängte. Ein Flerr, der,
auf einer Bank sitzend, ihrem Gesang gelauscht hatte, trat auf sie zu mit den höflichen
Worten: „Wissen Sie, was Sie soeben gesungen haben?"
„Jawohl,“ antwortete Aurora, „Im Grunewald ist Holzauktion!"
„Nein, liebes Kind!“ erwiderte der freundliche Herr. „Das dreigestrichene Gis!
Sie haben ein Vermögen in der Kehle! Sie müssen zur Bühne! Ich werde Sie aus-
bilden lassen!"
Als Aurora das Wort „Vermögen" hörte, erwachte ihr Idealismus. Mit einem
Sprung auf das dreigestrichene h fiel die Göttliche dem Mäzen um den Hais. Nun
konnte auch der Vater nicht länger „Nein" sagen. Denn es stellte sich heraus, daß
der fremde Herr ein Theaterdirektor war, der erst dreimal Pleite gemacht hatte, so
daß man zu ihm uneingeschränktes Vertrauen haben konnte. Schon im nächsten
Abendblatt war zu lesen, daß der Direktor Bluffer wieder einmal einen neuen Gesangs-
stern mit dem Fernrohr seiner Spürfindigkeit entdeckt habe, und zwar sei es diesmal
eine Chauffeurin. Und sie stelle alles Dagewesene in den Schatten.
Wenn aber nun die Göttliche gemeint halte, gleich am nächsten Tage etwa die
Titelrolle in der „Zauberflöte“ singen zu können, so harrte ihrer eine bittere Ent-
täuschung. Denn jetzt begann erst die Tonbildung. Das ist eine ganz gefährliche
Sache, und die Gesangslehrer, die sich damit befassen, werden dabei Millionäre oder
tobsüchtig.
Bevor der Mensch zu einem Tonbildner geht, lebt er in dem Wahne, er könne
sprechen, ja vielleicht sogar singen. Bald aber hat ihn der Tonbildner überzeugt,
daß dies ein verabscheuungswürdiger Aberglaube ist, und daß der Ton, den man
bisher im Kehlkopf vermutete, in der Nasenspitze, im rechten oberen Schneidezahn
oder im linken Ohrläppchen sitzt — keinesfalls aber dort, wo er nach den Gesetzen
der Sangeskunst zu sitzen hat. Mittels grausamer Stimmübungen wird nun der Ton
aus seinem Versteck hervorgejagt und in die obere Nasenpartie getrieben, wo
er bis auf weiteres sich häuslich niederläßt und an jedem Schnupfen innigen An-
teil nimmt.
Auch die richtigen Mundstellungen bringt der Tonbildner seinem Opfer bei,
denn wenn man schon falsch singt, so soll es wenigstens schön aussehen.
Die nächsten Jahre brachte die Göttliche daher damit zu, die Vokale a, e, i, o, u
durch verschiedene Oktaven hinaufzuschleudern und hinabzublasen und Noten zu
lernen, was ihr zwar nicht leicht gelang, aber mit der Zeit. Und manchmal, wenn
ihr Vater, der Schuhmacher, sie im Nebenzimmer Gesangsetüden üben hörte, ließ er
bewundernd den Hammer sinken und sagte: „Ganz wie damals im Affentheater!" . . .
Während sie nun die ersten größeren Partien einstudierte, wobei ihr Lehrer sie
öfters darauf aufmerksam machte, daß doch eigentlich auch Ladenfräulein ein ganz
schöner Beruf sei, begann der Dressur zweiter Akt: der dramatische Unter-
richt. Dieser wird gewöhnlich von einem Schauspieler erteilt, der keine Haare
mehr hat, weil er sie sich vor Qual ausgerauft hat. Der Lehrer der Göttlichen
hingegen besaß noch alle seine Locken, da er sich das Haarausraufen bereits wieder
abgewöhnt hatte.
In dieser Zeit kam Auroras Mutter öfters in Versuchung, nach dem Arzt oder
der Polizei zu schicken, weil ihre Tochter gar so merkwürdige Gewohnheiten annahm:
manchmal beim Mittagessen drückte sie plötzlich den Suppenteller gegen ihre Brust
und seufzte dazu: „Nimm mich hin, o Geliebter!", oder sie ergriff nachmittags, wenn
niemand an etwas Böses dachte, auf einmal einen Federhalter, tipste ihn mit den
Worten: „Seht und erbleichet: so stirbt eine Römerin!" gegen ihre frische Wasch-

bluse, aus der die Tinten-
flecke niemals wieder her-
ausgingen, sank zu Boden
und ruinierte wälzender-
weise den ohnehin scho-
nungsbedürftigen Teppich.
Oder sie empfing das Milch-
mädchen mit erhobenen
Händen: „Entfleuch1, elen-
der Bube!" und kniete vor
einem Stuhl nieder, indem
sie wimmerte: „O geh’ nicht
von mir, Asmodäus!" . . .
Daß sie ihren Vater nur
noch mit „edler Ritter!" an-
redete und ihre Mutter hart-
näckig als „tugendsame
Wittib“ bezeichnete, ging
noch hin, aber ihr jüngster
Bruder warf einmal seine
sämtlichen Schulbücher
nach ihr, weil er sich nicht
mehr länger „ha, laster-
hafter Gauch!" nennen
lassen wollte. Welcher Titel
auch wirklich nicht zur
Hebung des Familiensinns
beiträgt.
Die Hauptsache aber
war, daß die Göttliche etwas
lernte und daß sie nach etlicher Frist erquickend lachen, herzzerreißend schluchzen,
sich erstechen, an Gift sterben und was sonst in einer besseren Oper vorkommt,
am Schnürchen hatte.
So hielt denn Direktor Bluffer, der inzwischen die vierte Pleite erfolgreich über-
standen hatte, den Zeitpunkt für gekommen, die Göttliche auf das Publikum loszu-
lassen. Aurora sollte einen Pagen spielen, der die Meldung zu singen hatte: „Herr
Graf, dort kommt Eure in Tränen zerflossene Gemahlin!" So schwer war ihr noch
nie eine Rolle vorgekommen! Aus Angst vor Heiserkeit lutschte sie am Tage vor
ihrem Debüt zwei Schachteln Hustenbonbons, die denn auch den Erfolg hatten, daß
sie stockheiser wurde.
Ach, und als sie am Abend durch das Vorhangloch in den Zuschauerraum
blickte, hatte sie derartiges Herzklopfen, daß sie am liebsten in den Souffleurkasten
gekrochen wäre, um nie wieder daraus hervorzukommen.
Die älteren Kollegen sprachen ihr Mut zu, und der gutmütige Regisseur nahm
sie vor ihrer Szene eigens noch einmal beiseite und fragte wohlwollend: „Na, kleiner
Wurm, wie heißt dein Satz?“
Und mit hörbarem Zähneklappern erwiderte die Göttliche: „Herr Graf — tata —
dort kommt Eure — tata — in Tränen zerflossene Gemahlin!“
„Na also, es wird schon gehen!" sagte der Regisseur und kniff sie in die Wangen,
weil er etwas für die Kunst tun wollte.
Und es ging auch. All ihren Mut zusammennehmend stürzte die Göttliche auf
die Bühne und schmetterte: „Herr Graf — tata — dort kommt Eure in Tränen
zermahlene Flossin!"
Die in „Tränen zermahlene Flossin“ verschaffte ihr einen Heiterkeitsapplaus bei
offener Szene und machte sie so beliebt, daß ihr bald größere Rollen anvertraut
wurden. Und da sie natürliches Talent besaß, so wurde sie sogar nach kaum zwei
Jahren an eine größere Bühne engagiert.
Sie errang auch manchen netten Erfolg, nur hatte sie den weitverbreiteten Fehler,
mit den Jahren älter zu werden. Leider entging ihr selbst das vollständig, so daß sie
noch immer Heldensopran zu singen versucht und in den jugendlichsten Partien als
komische Alte auftritt.
Dies ist großen in Zügen die Biographie, die mir Aurora Schwindelmeyer, genannt
Thea Verite, beim Tee erzählte, wobei sie besonders lange bei dem Punkt verweilte,
es habe einmal ein Herr in der Loge gesessen und bei ihrer großen Arie beifällig
mit dem Kopf genickt, und als sie nachher gefragt habe, wer das gewesen sei, habe
ihr ein Kollege gesagt: „Das war Johann Sebastian Bach!"
Ich war der Göttlichen natürlich riesig dankbar für alle Auskünfte und suchte
ihr das durch allerlei liebenswürdige Komplimente zu beweisen. So sagte ich ihr
zum Beispiel: „mein Großvater habe mir oft erzählt, was sie für eine vorzügliche
Sängerin gewesen sei", — aber dieses Kompliment schien sie — ich weiß nicht,
warum — etwas zu chokieren, und so kam es, daß wir uns nicht ganz so freund-
schaftlich trennten, wie wir uns begrüßt hatten.
Vielleicht ärgerte es sie auch, daß ich mein Bukett wieder mitnahm, weil ich
an diesem Tage noch einen anderen Besuch zu machen hatte. — Wer kann das
wissen? Frauenseelen sind so furchtbar kompliziert.
Aber wenn sie diesen Artikel liest, wird sie sicherlich wieder versöhnt sein, denn
ich habe darin nur Gutes von ihr gesagt und habe es nicht einmal erwähnt, daß der
Tee bei ihr miserabel war. Und ihren Geburtstag, welcher am 5. April 1864 war,
habe ich absichtlich verschwiegen und nur ganz im Anfang flüchtig genannt.


Hans Stubenrauch: Der Werdegang einer Sängerin. Tonbiidung.

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