Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift (28.1913-1914)

BEILAGE ZUR „MODERNEN KUNST.'

der Schillerschen „Räuber“ zu einem unvergeßlichen Bild
übersättigter Jugendkraft macht, wie er dem Friedens-
schluß der Frauen in der „Lysistrata“ des Aristophanes
ein pantomimisches Bachanal folgen läßt, das sich zu
einem übermenschlich orgiastischen Schrei hinaufsteigert
— das sind und bleiben seine allergrößten Leistungen.
Mit diesem Genie der Massenorganisation hängt es
natürlich zusammen, wenn sich Reinhardt in die Arena
locken ließ, wo er noch imposantere Massenwirkungen
freilich nur auf Kosten der dramatischen Gesamtqualität
erzielen konnte. Mit seiner Empfänglichkeit für sinnliche
Augenwerte hängt es zusammen, wenn zuweilen Aus-
stattungsmomente die eigentlich darstellerischen über-
wiegen, und viel Kraft und Liebe an Werke gewendet
wird, die höchstens die sinnliche Schaulust, aber nie-
mals das seelische Erleben bereichern können. Und
mit seiner von Grund aus sinnlichen Schauspielernatur
hängt es zusammen, daß seine Repertoirbildung mehr
einen experimentierenden als einen literarisch zielvollen
Charakter hat, und daß seine Regie in so manchen
Fällen mehr die sinnliche Atmosphäre als die geistige
Pointe eines großen Werkes zu treffen versteht. Man
muß in diesem Zusammenhänge eben daran erinnern,

daß Reinhardt mehr eine sehr bedeutsame Erweiterung
dem Stoffe nach, als eine Ergänzung dem Wesen nach
zu der Brahmschen Theaterkunst gebracht hat, daß auch
er Naturalist ist ■— und daß eine neue Epoche des
deutschen Dramas nun vielleicht von einem Manne her-
rühren wird, der die ideel pointierenden, die geistig
stilisierenden Elemente der Bühnenkunst neu heraus-
arbeitet, und der so gewissen literarischen Strömungen
Beistand tut, die das Bild des frei wählenden, nicht
getriebenen, sondern treibenden Menschen neu herauf-
bringen möchten.
Aber auch für diese etwa zu erwartende Periode
wird sich in den undogmatischen Versuchen Reinhardts
schon manch nützliche Vorarbeit finden. Und in jedem
Falle bleibt er der Mann, der durch seine große, wenn
auch selbstredend begrenzte Natur alle entscheidenden
Werte innerhalb der deutschen Bühnenkunst der letzten
Epoche geschaffen hat. Was sich heute irgendwo auf
Bühnen des Reiches an irgendwie fruchtbarem Leben
regt, das kommt fast alles, wie sehr es auch die Vater-
schaft verleugnen möchte, aus seiner Schule. Die ersten
Lustren deutscher Bühnenkunst im 19. Jahrhundert, in
denen die Szene durch eine vertiefte Sinnlichkeit der

Anschauung, durch eine phantasiestarke Erhöhung der
Beweglichkeit alles lebendigen Materials neuen Reiz
erhielt, diese Epoche deutscher Bühnenkunst darf keinen
anderen Namen tragen, als den Max Reinhardts.
-=*&=-
feinst und Religion.
Aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegt vor mir
die Bibel, und meine Blicke haften auf der ersten Seite
des Alten Testaments. In klingenden Rhythmen ent-
rollt sich das erhabene Bild der Weltschöpfung, ge-
waltig in seiner plastischen Unmittelbarkeit, gesehen
mit dem Auge des Dichters, empfunden mit der Seele
des Künstlers.
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; und die
Erde war wüste und leer, und es war finster auf der
Tiefe, und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser ...“
Religion und Kunst! So eng ist ihre Wechsel-
wirkung, daß es oft schwer zu entscheiden bleibt, ob
die erste Anschauung des Menschen vom Weltgeschehen,
von dem geheimnisreichen All, das ihn umgibt, von
dem rätselhaften Werden und Vergehen aller Natur,


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