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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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3. Heft
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Wach, Robert: Ophelia: einer alten Theaterchronik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0095

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MODERNE KUNST.

ein anderer das haben sollte, was ihm unerreichbar geblieben. Sonst ließ er
mir die Freiheit, mein Leben zu leben, wie ich es wollte. Er hat mir nicht ver-
boten, einen andern zu lieben, nur einen andern zu heiraten!“
Booth lachte höhnisch.
„Ein Einfall, eine Laune eines spleenigen Menschen, und dir soll —“
„Nenn’s, wie du willst! Ich liebe dich! Liebe dich, wie ich noch niemand
geliebt habe! Auch den Lord nicht! Doch seinen letzten Willen muß ich erfüllen.
Das bin ich ihm schuldig."
Jetzt sprang Booth erregt auf.
„Das ist Narrheit! Oder vielleicht noch etwas Schlimmeres! — Ich kann den
Argwohn nicht los werden, du willst dich nicht binden! Der Schauspieler ist
dir nicht gut genug. Du willst eine Zeitlang in seinen Armen glücklich sein.
Doch willst du dir die Freiheit bewahren für den Fall, daß sich dir wieder ein
Lordswappen bietet! Lange schon haben diese Worte mir auf den Lippen ge-
brannt, ich mußte sie einmal aussprechen!“
Madame Vanbruggen sah ihn lange wortlos an. Dann erhob sie sich und
ging, ohne ein Wort zu erwidern, davon.
Dieses Mal folgte ihr Booth nicht. Erst als ihr weißes Gewand hinter den
Bosketts verschwunden war, verließ auch er den kleinen Hügel. Doch schlug er
die entgegengesetzte Richtung ein. Er ging nach dem See hinunter. Hier traf
er Miß Santlow, die dort die Schwäne fütterte. Ihr schüttete er sein Herz aus.
Erzählte ihr, was soeben vorgefallen und bat um ihren Rat, ihren Beistand.
Sie zuckte die Schultern.
„Ich habe hierin auf Susanne keinen Einfluß. So wenig wie irgendein
anderer. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hat, dabei bleibt sie. Sie ist
mir eine liebe Freundin, ich schätze sie ungemein und liebe sie, doch ihr
Charakter ist mir mitunter unverständlich.“
„Sie liebt mich nicht,“ rief Booth schmerzlich. „Oder nennst du das Liebe?“
„Ich weiß nicht. Sie behauptet es doch immer. Freilich, ihre Weigerung,
deine Frau zu werden, kann ich dann nicht verstehen. Ganz abgesehen von
Gründen der Moral, muß es doch jedes liebenden Weibes Wunsch sein, den
Geliebten so fest als möglich an sich zu ketten. Schon aus Furcht, ihn zu ver-
lieren. — Ich würde wenigstens in solchem Falle weder nach Lebenden, noch
nach Toten fragen! Noch dazu, wenn der Mann —“
Sie stockte in ihrer Rede und sah zu Boden.
„Nun? Was meinst du, wenn der Mann —“
„O, nichts weiter. Ich meine nur im allgemeinen.“
Booth sah sie an. Zum ersten Male fiel ihm auf, wie schön Miß Santlow
war. Und daß sie einen Vergleich mit Susanne eigentlich nicht zu scheuen
brauchte. Merkwürdig schien es ihm, daß er das erst jetzt sah. Als ob er so
lange blind gewesen! — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Über Cowley brausten die Nordoststürme. Vorboten des nahenden Herbstes.
Sie waren früh in diesem Jahre gekommen. Früher als sonst. Und ungebärdiger
als sonst. Mit roher Mordlust wüteten sie in den Blumenhecken, in den Laub-
kronen. Rüttelten zornig an dem Dachfirst und an den Fensterläden.
Alle Lichter waren schon auf Cowley ausgelöscht. Man suchte dort früh
den Schlaf.
Doch Madame Vanbruggen fand ihn nicht, so sehr sie sich auch nach seiner
Umarmung sehnte. Still lag sie auf ihrem Lager, mit geschlossenen Augen.
Doch die Gedanken schwirrten und flatterten unter ihrer Stirn. Gleich schwarzen
Nachtvögeln. Nachtvögeln mit spitzen Klauen und Schnäbeln. Es war ihr Ver-
hältnis zu Booth, das sie quälte. Zwar stritten sie in letzter Zeit nicht mehr so
häufig wie sonst. Zwar drang er seit Tagen schon nicht mehr in sie wegen
ihrer Heirat, die sie ihm so oft schon abgeschlagen. Doch es schien ihr ander-
seits, als ob seine Liebe zu ihr mit jedem Tage kühler würde.
Und auch heute wieder quälte sie die Frage, die sie sich in letzter Zeit so oft
selbst vorgelegt: Täte sie nicht besser und klüger, den Wunsch des Geliebten
doch zu erfüllen und seine rechtmäßige Frau zu werden? Wenn sie ehrlich zu
sich selber war, mußte sie; sich eingestehen, daß es weit mehr etwas anderes
war. Sie hatte Furcht vor dem Toten! Sie glaubte zwar nicht, daß Tote
wiederkehren können, doch, sie hatte Furcht davor. Eine ganz entsetzliche
Furcht. Doch war sie nicht töricht, einer solchen dummen Furcht wegen ihr
Glück aufs Spiel zu setzen? Sollte sie darum vielleicht den Geliebten verlieren?
Nein! Morgen wollte sie Booth sagen, daß sie in die Heirat willige. Morgen
früh schon! — Ordentlich leicht wurde ihr bei dem Entschluß. Es war, als ob
in ihr etwas zu bluten aufhörte.:
Der Sturm tobte ums Haus.. Bald wild und zornig, bald klagend und wimmernd.
Da — was war das? Hatte nicht das Tor geknarrt? Schlug es jetzt nicht zu?
Sie richtete sich lauschend in ihrem Bett auf?-Doch nur den Sturm hörte
sie. Auch hätten ja wohl die Hunde angeschlagen, wenn Fremde sich dem
Hause genähert. Und sie legte sich wieder nieder. . Plötzlich kam eine wahn-
sinnige Angst über sie. Vor etwas Entsetzlichem, das herannahte. Sie konnte
nicht allein bleiben. Es litt sie nicht mehr im Bett, in ihrem Zimmer.
Sie sprang auf und zündete ein Licht an. Daun warf sie ihren Schlafrock
über und eilte hinaus auf den Korridor zu dem Zimmer, in dem Booth schlief,
klopfte, rief seinen Namen, und als keine Antwort erfolgte, klinkte sie die Tür
auf und trat ein. Doch, was war das? Das Bett war leer. War ganz unberührt.
Er war nicht da! Sie leuchtete überall herum. Da fiel ihr Blick auf ein weißes
Papier, das auf dem Tische lag. Sie nahm es, hielt es ans Licht und las:

„An Madame Vanbruggen!
Verzeih, wenn wir, Miß Santlow und ich, uns bei der Nacht davongemacht
haben. Aber wir wollen allen unliebsamen Erörterungen und heftigen Szenen
aus dem Wege gehen. Miß Santlow und ich lieben uns. Wir sind zu der
Überzeugung gekommen, daß wir zusammengehören. Und so wollen wir auch
zusammen unser Glück suchen. Unsere Liebe, meine liebe Susanne, war
wohl beiderseits nur ein Irrtum. Wenn bei dir überhaupt Liebe zu mir war.
Habe Dank für alles Gute und Schöne und sei glücklich, wie auch wir es zu
werden hoffen. Booth.“
Als Madame Vanbruggen diesen Brief zu Ende gelesen, stürzte sie ohn-
mächtig zu Boden. — —---— ---'—--
Am anderen Tage warf sie ein hitziges Fieber auf das Krankenlager
Wochenlang rang sie mit dem Tode. Nur den eifrigen Bemühungen eines
Londoner Arztes, den ihre alte treue Dienerin nach Cowley rief, gelang es, sie
am Leben zu halten. Ihr Körper schien allmählich zu gesunden, doch ihr Geist
blieb verwirrt! Man schob dies anfangs auf die überstandene Krankheit, doch
ihr Wesen wurde immer seltsamer, ihre Reden verwirrter. Und schließlich
mußte es von ihrer Umgebung als feststehend betrachtet werden: Madame
Vanbruggen war .wahnsinnig geworden. Natürlich verbreitete sich bald das
Gerücht davon in London.
Ein Jahr war seitdem vergangen. Der Zustand der kranken Schauspielerin
war der gleiche geblieben. Nur selten zeigte sich bei ihr ein Strahl von Ver-
nunft, der durch das Gewölk blickte, welches ihren Verstand umhüllte. Doch
da sie ihrer Umgebung niemals zu besonderen Befürchtungen Anlaß gab, ließ
man ihr auch weiterhin die denkbar möglichste Freiheit. — Heute ging sie
wieder mit einer Dienerin durch die Straßen Londons. Da machte sie an einer
Straßenecke halt, wo riesige Zettel zum Besuch des Haymarkt-Theaters ein-
lüden. Sie las: Heute Gastspiel des Herrn und der Madame Booth (vormals
Miß Santlow): Hamlet. Lange stand sie vor dem Zettel, als ob sie nachdachte.
Als ob längstvergessene Zeiten, längstverklungene Namen in ihrem Erinnern
wach wurden. Und plötzlich schien ihrem kranken Verstand ein heftiger Wunsch
geboren zu sein, der nach der Ausführung schrie. Sie begehrte plötzlich, nach
Hause zu gehen.
Mit Unsinnigkeit ist oft eine erstaunliche List verbunden. So gelang es der
Kranken, sich unbemerkt Zugang zu ihrem Garderobenschrank zu verschaffen
und unbemerkt das Kostüm der Ophelia anzulegen. Dann warf sie einen Mantel
darüber, und in einem unbewachten Augenblick entschlüpfte sie aus ihrer
Wohnung auf die Straße. Den wohlbekannten Weg zum Theater wußte sie
leicht zu finden, auch den Bühneneingang. Die Vorstellung hatte schon lange
begonnen, und es gelang ihr, unangehalten auf die Bühne zu gelangen. Hier
verbarg sie sich im Dunkel der Kulissen und lauschte den wohlbekannten Worten
der Tragödie. Mittlerweile war die große Wahnsinnsszene der Ophelia heran-
gekommen. Schon stand Madame Booth (früher Miß Santlow) hinter den Kulissen
bereit und wartete auf ihr Stichwort. Da ließ die schweigende Zuhörerin in der
Kulisse ihren Mantel fallen und neben Madame Booth stand plötzlich eine zweite
Ophelia. Erschreckt starrte Madame Booth auf die Erscheinung. Da fiel auch schon
ihr Stichwort. Sie wollte schnell auf die Bühne eilen, da stieß die unheimliche
Doppelgängerin sie zurück mit den Worten: „Ich, ich spiele die Ophelia!“
Und ehe Madame Booth sich von dem ersten, betäubenden Erschrecken erholen
konnte, stand die andere schon auf der Szene und sprach ihre Rolle.
Wohl erstaunten die auf der Bühne stehenden Schauspieler bei dem Klange
dieser Stimme, bei dem Erscheinen dieser ..völlig verwandelten Ophelia, sie
kannten auch wohl die Vanbruggen von früher, doch sie waren viel zu sehr
diszipliniert, viel zu sehr „Schauspieler“, als daß es ihnen nicht vor allem darum
zu tun war, die Vorstellung ohne Unterbrechung fortgehen zu lassen. So spielten
sie, wenn auch sichtlich verwirrt, ihre Rollen weiter. — Auch das Publikum
blieb ruhig. Viele, besonders die auf den hinteren Plätzen, merkten -kaum den
Wechsel, und die ihn merkten, waren bald so in dem Bann der Vorstellung,
daß sie augenblicklich nicht weiter darüber nachdachten — denn nie vorher
hatte eine Schauspielerin diese Szene so glänzend gespielt. Nie war der Wahn-
sinn der armen Ophelia so echt und so erschütternd dargestellt worden. Sie
war ja wirklich wahnsinnig, die da oben operierte. Sie spielte sich selber.
Wie unheimlich glühten die großen, dunkeln Augen! Wie nervös hasteten die
feinen mageren Hände. Und wie sprach aus der klangvollen Stimme das ganze,
unendliche Weh eines gebrochenen Herzens! Ihre ganze Kraft schien ihr
wiedergegeben. Ihre ganze, große Kunst. Und als sie abging, folgte ihr ein
dröhnender Beifallssturm nach. Ein Beifallssturm, der auf ihr totenbleiches
Gesicht ein letztes, leichtes Lächeln zauberte. Einen Augenblick nur, dann er-
starrte ihr Antlitz wieder. Denn ihr Blick fiel auf Booth als Hamlet, der starr auf
die einstige Geliebte blickte. Sie blieb vor ihm stehen, sah ihm in die Augen,
doch dann senkte sie den Kopf und sagte mit dumpfer Stimme, die schon aus
einer andern Welt zu kommen schien: „Nun ist alles vorbei!“ Dann raffte
sie hurtig ihren Mantel auf und eilte von der Bühne auf die Gasse. Sie eilte
nach Hause. Und als ob die Natur bei ihr ihr letztes Vermögen angestrengt
hätte, als ob sie ihr letztes bißchen Lebenskraft auf den Brettern dahingegeben,
so brach sie hier plötzlich zusammen. Und starb noch an demselben Abend.
„Gleich einer welken Lilie senkte sie ihr Haupt,“ sagt von ihr der Dichter Gay.
Sie ging aus wie ein Lichtchen, das schon ganz herabgebrannt ist, und dann
noch einmal hell aufflackert, und dann erlischt.
 
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