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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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6. Heft
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Aeckerle, Helene: An fernem Horizonte: Skizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0178

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MODERNE KUNST.

69


Theo v. Lindenau (Albrecht-Dürer-Bund, Wien): Ragusa Hafen.

Nachdem er beendet hatte, dankte sie ihm in einem Ton, aus dem das demütige
Bewußtsein ihrer Rechtlosigkeit so deutlich sprach, daß er sich wider Willen er-
griffen fühlte. Unschlüssig zauderte er einige Sekunden — dann fragte er mit ab-
gewandtem Blick, ob er noch etwas für sie tun könnte.
Sie schüttelte stumm den Kopf, aber ihr scharfes Ohr hatte die veränderte
Klangfarbe in seiner Stimme herausgehört — und nun brachen ihre Tränen sich
plötzlich Bahn. Sie ging schwankenden Schrittes auf ihn zu und stützte die Hände
auf seine Schultern.
„Fidi . . . .?!" Bange Frage, flehentliche Bitte klang aus ihrem Anruf.
Seine Augen nahmen wieder den Ausdruck starrer Entschlossenheit an.
Er machte eine Bewegung mit den Schultern, als strebte er sich von dem be-
lastenden Druck ihrer Hände zu befreien.
Sie fühlte diese Bewegung, und ihre Arme sanken herab.
Ohne ein Wort der Entgegnung ging er dem Ausgange zu.
Dann aber als er die Tür öffnete — als er sie allein zurückließ — da über-
mannte sie die Verzweiflung. „Fidi", schrie sie auf. »Um deiner seligen
Mutter willen: tu es nicht! . . . Ich bitte — ich beschwöre dich — tue es nicht . .
Ihre Worte gingen in krampfhaftem Schluchzen unter. Kraftlos sank sie vor
ihm nieder. Er mühte sich erschrocken, sie aufzurichten.
Ein peinliches Gefühl der Schuld begann sich in ihm zu regen.
War es denn in der Tat nicht etwas Ungeheuerliches, das er zu tun beabsichtigte?!
Er wollte das Leben dieser alten Frau um seiner selbstsüchtigen Wünsche willen
vernichten?! Dieses Leben, das nichts als eine ununterbrochene Kette von Opfern
für ihn gewesen war! . . .
In diesem Augenblick wurde es ihm klar, daß er in dieser Kette gefangen war.
Er konnte nicht mehr über sich selbst hinüber! Die lange Gewohnheit der Ge-
fangenschaft hatte die Kraft seines Wesens aufgezehrt. . . .
Jene stolze Erhebung seines Willens war ein abenteuerlicher
Traum gewesen!
Die alte Dame weinte fassungslos.
„Um deiner seligen Mutter willen", wiederholte sie . . .
„Tue es nicht! . . Wenigstens nicht jetzt . . . nicht heute! . . .
Überlege doch — prüfe! — Wenn du erst wieder zu Hause
bist — glaube mir — dann wirst du anders denken . . . Dann
wirst du einsehen, daß es ein Unglück wäre — ein Unglück
für dich — für mich — für alle-- — —"
Er wandte sich mit einer jähen Bewegung zu ihr. Warum
sollte es denn ein Unglück sein?! Warum wollte sie nicht be-
greifen, daß es sein Glück war?! Er wollte es fragen. —
Aber er besann sich, daß er sich um etwas zu streiten
anschickte, das seinen Händen — bereits entglitten war.
Es war vorüber!
Er glaubte nicht mehr an die sieghafte Kraft seines Ge-
fühls ... In dumpfer Resignation sank er auf sein altes „Ich“
zurück — — — —
Das Gesicht, das er der Sprechenden zuwandte, trug einen
so leeren Ausdruck, daß selbst die in ihrem eifersüchtigen Gram
befangene alte Frau, sich auf unklare Weise erschüttert fühlte.
Sie weinte aufs neue, aber jetzt nicht mehr um ihre eigne
traurige Verlassenheit, sondern um die Schmerzen, die die eitle
Eroberungssucht der Fremden ihm, dem sorglich Gehüteten,
bereitet hatte.

Warum hatte sie sich in seine Kreise gedrängt?! Warum hatte sie den schönen
Frieden seines Cemüts, das heitere Gleichmaß seines Wesens gestört?! — — — Sie
allein trug die Schuld, daß er litt — — aber nun — Gott sei Dank — nun war er
gerettet, vor dem Schlimmsten bewahrt! Er war wieder der Ihre! Sie fühlte es mit
unumstößlicher Gewißheit, und diese Gewißheit machte sie milde. — — — Sie
besann sich, daß er hatte gehen wollen, daß jeder Augenblick ihm kostbar war.
In zärtlichem Mitgefühl drängte sie selbst ihn zur Eile.
„Du wirst den letzten Abend noch genießen wollen — —."
Sie erhob sich mühsam und suchte ihm eigenhändig unter all den verstreuten
Gegenständen den Hausschlüssel hervor.
„Damit du nicht an mich gebunden bist . . ." sagte sie sich zu einem Lächeln
zwingend . . . „Es könnte später werden."
Und sie drückte dem starr vor sich Hinblickenden den Schlüssel in die Hand.
„Geh doch, geh! ... Sie wird gewiß schon warten. . . .»
Da nahm er den Schlüssel aus ihrer Hand, die so restlos bis in die letzte Stunde
hinein zu opfern wußte.-
Sein Gemüt war voll quälender Selbstanklage, voll verzehrender Sehnsucht.
Planlos irrte er am Strande umher. Das Wasser war ungewöhnlich weit zurück-
gewichen: einförmig, in endloser Weite dehnte sich der Strand vor seinen Augen aus.
In den Senkungen des gefurchten Bodens waren einige Wasserlachen stehen
geblieben — armselige Reste einer gewaltigen Flut.
Von der rastlosen Bewegung des mütterlichen Elementes abgetrennt, hatten diese
Wasser den Glanz wechselnder Reflexe verloren. Stumpf und glanzlos, wie die Augen
Toter starrten sie aus dem Gefängnis ihrer engen Umgrenzung zum abendlichen
Himmel empor. — — —
Endlich, nach langem vergeblichem Umherirren erreichte er sie in der Nähe
ihrer Wohnung. Sie trug einen dunklen Mantel, der ihr Gesicht ungewöhnlich weiß
und schmal erscheinen ließ; über die Hand hatte sie wohl der abendlichen Kühle
wegen einen Handschuh gestreift. Und diese beiden geringfügigen Äußerlichkeiten: der
ungewohnte Mantel und der ungewohnte Handschuh, ließen sie ihm plötzlich seltsam
fremd und fern erscheinen. Er grüßte sie in trüber Beklommenheit.
Sie fragte nicht, wie er gefürchtet hatte — womit er seinen Tag hingebracht
hätte, sie erzählte nur mit etwas müder, eintöniger Stimme von den Vorgängen am
Strande: wie die Flut ungewöhnlich rasch gekommen, ungewöhnlich hoch gestiegen
wäre und wie sie alles mit hinweggeschwemmt hätte — einen Damm nach dem
andern — bis nichts mehr geblieben wäre.
„Nichts“ ... Es war etwas Zitterndes' und Schneidendes in dem Ton, mit dem
sie dieses Wort aussprach.
„Nichts" . . . wiederholte er gedankenlos.
Dann aber begegneten sich ihre Blicke — tödlich erschrocken, hoffnungslos,
so als hätten sie in dem zufällig gesprochenen Wort plötzlich das Gespenst ihres
Schicksals erkannt —-
Schweigend gingen sie das kleine Stück bis zu ihrer Wohnung. An der Tür
verabschiedeten sie sich flüchtig — .... „Denn — meinte er mit zagem Lächeln — es
bleibt ja noch ein Morgen. . . .
An diesem Morgen aber war sie nicht zu finden.-— —-— —
Spät, als das Schiff die Insel schon hinter sich gelassen hatte, wurde er gewahr,
daß auf einer der Dünen eine weißgekleidete Gestalt stand. Undeutlich — für das
entfernte Auge mehr Vision als Erscheinung der Wirklichkeit bedeutend — zeichneten
die Umrisse der weißen Gestalt sich gegen den fahlgrauen Horizont ab.
Ruhig — durch keinen stärkeren Windstoß im Gleichmaß der Bewegung beirrt,
glitt das Schiff auf seiner vorgezeichneten Bahn dahin: das Bild am Horizont
zerrann im Dunst nebliger Ferne. — — — — — — —


XXVIII. 18.

Eduard A. Dussek (Albrecht-Dürer-Bund, Wien): Im Stall.
 
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