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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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8. Heft
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Anwand, Oskar: Wilhelm Schreuer
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Steinmann, Anna von: Der arme Reiche: eine Weihnachtsgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0250

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102

MODERNE KUNST.

MODERNE KUNST.

102

Wilhelm Schreuer.
Von Dr. Oskar Anwand.


jo sehr die Ansichten über Wert und Wesen der
Kunst innerhalb der letzten Jahrzehnte ausein-
andergingen, fast allseitig wurden die errungenen
Vorzüge rein malerischer Art anerkannt und ebenso ein
gemeinsamer Mangel hervorgehoben: das Fehlen starker
Phantasie, die mit der Notwendigkeit des Lebens organisch
aufbaut. Diese Erscheinung ist eine natürliche Folge des
Realismus und Impressionismus, die an der Wirklichkeit
und den äußeren Eindrücken haften blieben, freilich um
sie in voller Frische, wie das Auge sie empfangen hatte,
wiederzugeben. Aus der Natur und Wirklichkeit holt zwar
auch der aus innerer Anschauung phantasievoll-schaffende
Maler die Bausteine seiner Kunst; doch fügt er sie zu
einem neuen Ganzen zusammen, nachdem er sie unwill-
kürlich umgeformt und umgeschmolzen hat. Zu den
wenigen Malern, die aus einem solchen angestauten Schatze
des Innern wie aus einem Wehre, ihre Kunstwerke strömen
lassen können, gehört der Düsseldorfer Wilhelm Schreuer.
Wenn man ihn häufig als Impressionisten bezeichnen hört,
so muß dieses Wort im besonderen Sinne verstanden sein,
welcher der schöpferischen Phantasie ihr Recht zukommen
läßt. Vor allem darf man auch nicht, wie das sonst zu-
trifft, hierbei an eine Abhängigkeit von Frankreich denken;
Wilhelm Schreuers Impressionismus — um hier noch einmal
diesen Ausdruck beizubehalten, den man lieber vermeidet —
ist durchaus deutscher, und zwar niederrheinischer Art.
Wahrlich dieser Künstler hat sich seinen Weg nicht
leicht gemacht, sondern das Ansehen und die Erfolge des
heute Siebenundvierzigjährigen sind sauer genug er-
rungen. Nachdem der Jüngling das Realgymnasium in
Köln verlassen hatte, besuchte er die Akademie in Düssel-
dorf — um sich künstlerisch sehr bald auf sich selbst an-
gewiesen zu sehen. Von einem Lehrer, der auf ihn stärkeren
Einfluß gewonnen hätte, läßt sich kaum sprechen; denn
es wurde Schreuer schnell klar, daß er sich seinen Weg
selbst —• und zwar von Anfang an bahnen müsse. Beson-
ders erschien ihm die überlieferte Palette so fragwürdig,
daß er von eigentlicher Farbe überhaupt absah, bis ihm
seine eigene Weise erstanden sein würde. Als wichtig und
grundlegend betrachtete er vor allem das Problem der
Helligkeit und Dunkelheit mit seinen Kontrasten, stufen-
haften Abschattungen und zartesten Nuancen, für die er
ein außerordentliches Feingefühl besitzt. Auf gleicher
Linie hiermit steht ihm das zeichnerische Können mit
Perspektive, sicherer Erfassung der Bewegungsmotive,
Überschneidungen usw. Auch hier unterscheidet sich
Wilhelm Schreuer also stark von den eigentlichen Im-
pressionisten, die ja vielfach nur auf einen allgemeinen male-
rischen Eindruck ausgehen und das Zeichnen in recht
geringem Grade beherrschen.
Die Technik, die sich Schreuer allmählich erschuf, war etwa folgender Art. Er
bediente sich nicht der Leinwand, sondern eines starken, pergamentartigen Papiers,
auf das er seine Tönung in dünner Lasur trug, hier und dort das Papier nach der
Art des Zeichners oder Lithographen aussparend oder die Farbe wieder fortwischend.
Mehr Tönung als Farbe! Denn diese Bilder sind, wie bereits angedeutet, einfarbig-
gehalten: grün in grün, blau in blau, grau in grau, wobei aber die feinsten Tönungen
zum Ausdruck gelangen. Erst viel später hat Wilhelm Schreuer von dieser Grund-
lage aus den Übergang zu einer reichhaltigen Palette persönlicher Prägung vollzogen,
wovon sein Bild „Ernste Musik", das wir im vorigen Hefte der „Modernen Kunst“ wieder-
gegeben haben, eine gute Vorstellung gewährt. Mit wahrhaft musikalischer Reinheit
sind hier die Farben Dunkelblau, Rot, Braun, Grüngrau usw. aus einigen Grundtönen
zusammengewoben und variiert. Das ist der neue Weg, den Schreuer geht und der
auf seine weitere Entwicklung hindeutet; aber vorerst sei die Welt umschrieben, die
er in seinem bisherigen Schaffen mit zwingender Notwendigkeit und in voller Lebens-
frische vor uns hingestellt hat.
Da ergibt sich ein Doppeltes, das sich zunächst zu widersprechen scheint: Wilhelm
Schreuer ist ebenso der Maler stärkster, im Nu aufgefangener Bewegung, wie stiller,
traumhafter Ruhe. Die Lösung des Rätsels liegt darin, daß er den Rhythmus der
Linie vollkommen beherrscht; sie kann bei ihm daherstürmen, sich schlank und
leicht drehen oder still verharren. In dieser Hinsicht gibt er keinem Impressionisten
nach, ja er übertrifft sie durch die Schärfe seines Auges und die Sicherheit seiner Hand.
Die Freude an starker Bewegung hat Wilhelm Schreuer wohl zum besten Pferde-
maler gemacht, den die Gegenwart kennt. Man muß wissen, wie ungeheuer schwer


Wilhelm Schreuer: Parkfest.

die wahrheitsgetreue Wiedergabe des Pferdes im Sprunge, Karriere, Trabe oder in
bewegter Ruhe ist. Man bedenke ferner, wieviele Künstler hohen Ranges, so z. B. Max
Liebermann, an dieser Aufgabe gescheitert sind, um Schreuer hierbei gerecht zu
werden. Denn seinen Bildern merkt man nicht das geringste von Mühe und Arbeit
an. Dabei ist es ihm gleichgültig, ob es sich um den Rhythmus der anstürmenden
Masse oder eines einzelnen Pferdes im Galopp handelt. In seinen vorbeidefilierenden,
schwenkenden oder im Marsch-Marsch dahinbrausenden Reiterregimentern ist das
donnernd-schwappende Aufsetzen der Hufe oder das Durcheinandertrappeln der Beine,
das Nicken, Hochgehen und Neigen der Pferdeköpfe mit seltener Klarheit erfaßt.
Auf einem andern Bilde stellt Schreuer das Vorbeigaloppieren eines Schlittens dar,
dem zwei Reiter und Hunde voransprengen. Meisterhaft der Sitz dieses ersten, rück-
wärts gelehnten und den Leib nach vorn in den Sattel drängenden Reiters, meister-
haft auch der zweite Reiter und sein Pferd, der sich mit zwei Hunden noch in
der Kurve befindet. Wie unterscheidet sich hiervon die Bewegung der Pferde in dem
Bilde, das ein Artilleriegeschütz um einen Baum biegen und im Galopp auf den
Hügel gegen den Manöverfeind auffahren läßt. Hier kommt das schwere Ziehen, das
die Pferde ausüben, in dem breiten kräftigen Aufsetzen der Hinterbeine aufs über-
zeugendste zum Ausdruck. Im Gegensatz hierzu gibt ein anderes Gemälde Schreuers,
das eine vornehme Kalesche mit abgesessenen Reitern und aufgesessenem Vorderreiter
in einem Schloßhofe zeigt, das ganze verhaltene Leben des scheinbar ruhenden Pferdes
wieder, das aber den baldigen Aufbruch erwartet. Hier hat der Künstler den leeren,
vornehmen Steinboden des Schloßhofs als breiten neutralen Vordergrund gegeben,
wie er überhaupt gern über eine ruhige, versammelnde Fläche hin die Aufmerksamkeit

auf sein eigentliches Bild konzentriert. Alle diese Kunstwerke empfing Wilhelm Schreuer
— das ist das Wichtigste und Staunenswerte! — von seiner Phantasie als einheitliches
Ganzes; sie sind nicht aus Teilen gestückelt. So kann nirgends der Gedanke an die
Momentphotographie anfkommen, obgleich Schreuers Blick ihr an Schärfe nichts nach-
gibt. Übrigens liebt er kräftige Bewegung nicht nur am Pferde, sondern z. B. auch

an Menschenmassen; dafür ist sein Karnevalsfestzug am
Rosenmontag, der den zusammengedrückten Maskenstrom
aus enger Gasse hervorwälzt und auf breiterem Platz
mündungsartig erweitert, ein klarer Beweis.
Die künstlerische Schaffensart Schreuers wird durch
eine Schilderung aus dem Kreise seiner Umgebung ge-
kennzeichnet. Es heißt dort, daß man ihn alle Abende
am Rheinufer oder im Hofgarten in Düsseldorf sehen
könne, während er die Fülle der vorüberjagenden Ein-
drücke in sich aufsauge. Aber niemand — auch der Maler
selbst nicht — könne wissen, wann sie zu künstlerischem
Leben erwachen werden. Oft dauere es Jahre, oft auch nur
Monate; jedenfalls sei das Leben das einzige Modell, dessen
sich Schreuer bediene. Es versteht sich von selbst, daß
er infolge des Waltens seiner Phantasie nicht allein an
die Gegenwart gebunden ist; mit Vorliebe verwebt er
seine Figurenwelt in die geschmackvollen Epochen des
Biedermeier, Empire und Rokoko. Wie von einem ver-
borgenen Orchester erklingen ihm in seiner Seele dann
harmonische Akkorde; so ist es kein Wunder, daß er seine
Gestalten aus diesen entschwundenen, vor ihm neu auf-
lebenden Zeiten gern in gemessenem Reigen, sei es bei
Gartenfesten, sei es in eleganten, lichtschimmernden Sälen
zeigt oder sie dem Konzert bezopfter Musiker lauschen
läßt, während livrierte Diener ihnen Erfrischungen reichen.
Darüber kommt die Gegenwart aber keineswegs zu
kurz; ja man muß Schreuer zugestehen, ein sehr fein-
sinniger Maler seiner niederrheinischen Heimat zu sein,
deren feuchte, schwere Luft und deren Volksleben, das
schon von fern an die Niederlande gemahnt, ihm aus-
gezeichnet gelingen. Das Treiben vor dem Stadttor, wo
Greise sitzen, Kinder spielen, Dienstmädchen mit ihren
Pflegebefohlenen schwatzen, und der alte Kirchturm auf
alle herabblickt, hat seine eigenste Note. Ebenso weiß
er die Luft einer alten Kneipe, in der ein Zecher mit
unnachahmlicher Bewegung angeduselt vor der Kellnerin
steht, aufs sicherste zu treffen. Von hier öffnete sich wie
von selbst der Weg zu mittelalterlichen Typen, wie sie
von den holländischen Malern her bekannt sind. Entweder
zeigt Schreuer die Ratsherrn oder die Vertreter der Zünfte in
würdiger, talargeschnüickter Schar vor dem Beratungstisch
gegen helles Licht, das vom breiten Fenster im Hintergrund
hereinschimmert. Oder er gibt seinem feinen Humor in
michelartigen, schwerfällignachdenklichen Gestalten die
Zügel etwas freier. Das alles quillt von Lebensfrische
und Impulsivität, wie sie nur die plötzliche Eingebung einer
Künstlerphantasie so unberührt erschaffen kann. Mit
Recht hält sich Schreuer auch jeder kleinlich-peinlichen
Detailmalerei fern und legt den Pinsel aus der Hand,
wenn die Hauptsachen die erforderliche Stimmung erzeugt
haben. Das hat nichts mit Flüchtigkeit zu tun, denn
dieser Maler gibt auch scheinbar-kleinliche in Wirklichkeit
für das Gesamtbild wichtige Dinge mit voller Liebe wieder.
Wilhelm Schreuer ist eine Ausnahmeerscheinnng in
unserer Malerwelt, ein phantasievoller Künstler, der sein
Können virtuos handhabt. Freilich wohnt diesem Vorzug
auch die Gefahr inne, Schreuer könnte bei der Leichtigkeit seines Schaffens, das ihn
ein Gemälde stets in einigen Tagen vollenden läßt, auch gelegentlich bereits geprägte
Formen, die ihm seine Erinnerung gerade darbietet, mit einschmelzen. Hiervon hat
er sich aber fast stets frei gehalten. Mit seinen Werken, die Schreuer in gesammeltem
Selbstbesinnen aus sich herausholt, weiß er stets zu überraschen.

Aus dem Kunstsalon Eduard Schulte, Berlin, Düsseidort.

a(

t)er arme Reiche.
Eine Weihnachtsgeschichte von Anna von Steinmann.


[Nachdruck verboten.]


r führte Else von Rüdiger zu Tisch. Sie ging nur selten in Gesellschaften,
gvyj aber er freute sich jedesmal, wenn er sie traf. Er unterhielt sich so
gut mit ihr, denn man blieb niemals an der öden Oberfläche der Ge-
spräche hängen. Sie lockte Dinge aus ihm heraus, die er im allgemeinen mit
sich allein abmachte. Dabei fiel von ihrer Seite nie eine indiskrete oder unbequeme
Frage. Er hatte nur das Gefühl: was ich ihr sage, ist wohl aufgehoben.
Es war Anfang Dezember und heute schien „Weihnachten“ das Stichwort
zu sein, das für die Tafelrunde abgegeben war. Immer wieder klang es herüber
in den verschiedensten Tonarten. Unwillkürlich griff er es auch auf.
„Weihnachten“ — sagte er und zuckte mit den Achseln, „alle scheinen sich
zu freuen“-

„Natürlich“, erwiderte Else von Rüdiger, „es ist doch das Fest der Freude,
das Fest der Liebe, die schönste Zeit im ganzen Jahr.“ Ein Jubel klang durch
ihre Worte, und aus ihren Augen leuchtete ein glücklicher Schein, der Wider-
glanz von dem, was sie dachte. „Festhalten, dehnen möchte ich die Tage“ fuhr
sie fort, „damit sie lange dauern und nicht zu schnell, zu hastig vorüberrauschen“.
„Und ich“, sagte Jürgen Radegast, „ich bin froh, wenn sie vorüber sind.
Ich nenne sie die dunkelste Zeit im Jahre.“
Erstaunt, fast erschreckt sah Else ihn an, denn es lag ein Anklang von
Bitterkeit in seinen Worten.
„Ja“, sagte er, „es ist so — und es ist immer so gewesen. Nicht allen ist das
Weihnachtsfest ein Fest der Freude. Mir nicht!“
 
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