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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0278

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MODERNE KUNST.

117


H. Lefebvre: Apollo.

zurückgezogen. Dieses ganze Verhältnis war docli etwas Gezwungenes.
Weshalb sollte sie sich den Leiden aussetzen, die dieser Verkehr ihr
brachte, weshalb eine künstliche Freundschaft pflegen, die so viel Bitter-
keit für sie barg?
Ach, wie dieser kühle Atem der Schneemassen Wohltat!
Annelise bekam Lust, sich auch auf die ungebahnten Wege zu
wagen. Mit den russischen Pelzstiefeln konnte man gut durch hohen
Schnee gehen.
Sie wandte sich der Naturbühne zu, einer amphitheatralischen An-
lage, die in alter Zeit dem Vergnügen des kurfürstlich hannoverschen
Hofes gedient hatte. Sie wollte nach dem Zuschauerraume hinaufsteigen,
um von dort den Bühnenplatz übersehen zu können, dessen Kulissen
hohe alte Bäume und Hecken bildeten. Aber ihr Fuß stockte im Hinauf-
steigen.
Jemand kam ihr entgegen.
Den Mantel mit dem breiten Biberkragen kannte sie — —
Das erste — allererste Mal, daß der Zufall sie mit Brenkhusen allein
zusammenführte seit seiner Verheiratung.
Im ersten Augenblicke waren beide befangen. Keinem von ihnen
war recht wohl zumute. Sie empfanden dieses Zusammentreffen als eine
Art Taktlosigkeit des Zufalls. Zu nahe hatten sie sich gestanden, als
daß sie jetzt harmlos einander gegenübertreten konnten.
Aber Brenkhusen versuchte es doch mit der Unbefangenheit. „Das
nenn’ ich tapfer,“ rief er ihr entgegen, „ich glaubte, ich wäre der einzige
Sonderling, der Vergnügen daran fände, sich durch diese Schneemassen
hindurchzuarbeiten. — Kommen Sie — hier auf diese Seite.“ Er
zeigte ihr den besten Weg. Und dann standen sie auf der Stelle, wo

sie in früheren Zeiten so häufig miteinander gestanden hatten, im Juni,
wenn der Lindenduft über den Park hinzog wie zärtliche Liebesverheißung,
und im Hochsommer, wenn die Sonne durch die Baumkronen hindurch
auf den Erdboden der grünen Halle fiel und dort zitterte und spielte in
fröhlichem Geflimmer —
Diese langen Spaziergänge zu zweien, was für eine liebe, wohltätige
Gewohnheit waren sie für die beiden gewesen — einst.
„Wir haben uns sehr lange nicht mehr gesehen, ich glaube, nicht
mehr seit Weihnachten“, sagte Brenkhusen.
Sie nickte. „Es ging meinem Manne nicht gut in den letzten Wochen;
da bin ich wenig hinausgekommen.“
Und sie wechselten die üblichen Fragen und Antworten, die jeder
Herr X. mit der guten Bekannten, Frau Y., wechselt, der er zufällig be-
gegnet. Bald aber verstummten sie.
Über beide kam das Gefühl, daß es keinen Sinn hatte, sich gegen-
seitig Komödie vorzuspielen.
Schweigend schauten sie auf das stille Winterbild hinab. Gurt Brenk-
husen wußte kaum, was er vor sich sah. Seine ganze Seele war erfüllt,
durchtränkt von einer grübelnden Frage: Was geht in ihr vor? Was
empfindet sie jetzt noch für mich? Sehnsüchtige Neugierde ergriff ihn.
Neugierde? Ja, was konnte es denn anders sein? Aber sie wuchs
zu einem seltsam starken Gefühl heran. Ihm war, als ob sein Leben
davon abhinge, daß er auf den Grund dieser Frauenseele schauen könnte.
Über Annelise aber kam, nachdem die erste Erregung verwunden
war, eine sanfte Wehmutempfindung ohne Bitterkeit.
Die Umgebung tat ihr wohl, dieser Schauplatz längst, längst ver-
sunkener Lebensfreude. Alles schlief hier und träumte. Wie stein-

XXVIII. 30.
 
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