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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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10. Heft
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Ostler, Rudolf: Die Psyche der Plastik
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0305

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130

MODERNE KUNST.

Vorstellungen, Persönlichkeiten oder Motiven, die
bereits mit Gefülilskräften umgeben, ja von ihnen
untrennbar sind, eine neue, höhere Form verleiht.
Das war z. B. der Fall, als Phidias seinen Zeus
erschuf, ein Werk der Plastik, das man mit Recht
als eine religiöse, nationale und künstlerische Tat
bezeichnet hat. Mit solchen Augen sahen die
Hellenen die Standbilder und Büsten ihres Apollo,
Mars, Merkur, Juno, Venus und Athene und übrigen
Götter, Heroen und Helden an. Und war es in
späteren Zeiten anders? Die Rolle der Hellenen-
götter haben im Mittelalter und ebenso in der
Renaissance — trotz der Zweifelsucht und Spötterei
ihrer Künstler — die Gestalten des alten Testa-
ments, und mehr noch Christus auf seinem Passions-
wege oder am Kreuze, am meisten aber Maria mit
dem Christuskinde eingenommen. Unwillkürlich
denkt man an Schillers Worte in der Braut von
Messina:
„Selber die Kirche, die göttliche, stellt nicht
Schöneres dar auf dem menschlichen Thron.
Höheres bildet
Selber die Kunst nicht, die göttlich geborne,
Als die Mutter mit ihrem Sohn."
Was diesem Motive von vornherein, seine all-
gemeine Wirkung sicherte, war die Durchdringung
mit Gefühlswerten, die bei dem Beschauer sowohl
himmlischer wie irdischer Art. sein konnten, da
sich hier beide umschlangen.
Dem Gotte stand der Heros nahe; nächst
den religiösen Empfindungen waren das Heldentum
und das Vaterland mit der Weihe des Pathos um-
geben. Ebenso wie einem Harmodius und Aristo-
gniton wurden den Siegern in Olympia Stand-
bilder errichtet. Ihnen entsprechen in neuerer Zeit
die Monumente der Könige, denen man schon
dadurch eine besondere Wucht sichert, daß sie
zu Pferde dargestellt werden. Es folgen die
schlichteren Standbilder der Feldherrn, Staats-
männer und Gelehrten; auch für ihre Entstehung
stets die treibende Kraft.
Zugleich hatte sich von der hohen Kunst, die mit den Empfindungen der Religion
durchtränkt war, ein zweiter Strom abgeleitet, der das Leben um uns mit kleinen
Bächen des Gefühls befruchtete. Mehr und mehr wurde die himmlische Liebe durch
die irdische ergänzt; das Motiv der Maria mit dem Christuskinde war — wie bereits
angedeutet — allmählich überhaupt zum Symbol der Mutterfreude über das Kind
geworden. Ja, dem gesamten Leben suchte man seine Gefühlswerte zu entlocken,
mochten sie heilig oder profan sein, und ihnen in der Kunst Form zu verleihen.
Man braucht nur die Worte Pompeji und Tanagra zu nennen, um die Wahrheit dieses
Wortes für die Antike erhärtet zu sehen. Doch schon die ägyptische Kunst bietet


F. Lepcke: Überrascht.
Verlag der Neuen Photographischen Gesellschaft A.-G., Steglitz-Berlin.

ist die Bedeutung des Modells


Beispiele hierfür! Im deutschen Mittelalter und in
der Reformationszeit waren Wassermänner, Undinen
und allegorische Fabelwesen an die Stelle der
Götter getreten, ja sogar Menschen mit humo-
ristischem Beigeschmack, selbst plumpe — vom
damaligen Städter sehr verachiete Bauern — deren
einen z. B. der Nürnberger Gänsemannbrunnen
darstellt.
Als ein Blatt dieses gewaltigen Baumes der
Kunst, mit Motiven rauschend, denen schon an
und für sich ein starkes Gefühlsleben innewohnt,
können auch die Werke angesehen werden, die
hier unter dem Titel „Der Kuß in der Plastik"
abgebildet sind. Wären auch französische Bild-
hauer einbezogen, so müßte vor allem Auguste
Rodins gedacht sein, dessen Arbeiten das seelische
Zusammenhängen zweier Menschen und ihr körper-
liches Sichvereinigen im Kuß so meisterhaft aus
dem Marmor gebildet, ja — fast könnte man
paradox sagen — in ihm belassen haben. Ebenso
reden aber die Werke unsrer deutschen Plastiker
eine klar-verständliche, an Leben und Empfindungs-
gehalt reiche Sprache. Es ist das gleiche Motiv,
das bei ihnen allen zum Ausdruck kommt, aber
je nach der Art der verschiedenartigen Künstler
in verschiedenartigster Weise.
Das starke Temperament und die Leiden-
schaftlichkeit eines Reinhold Begas offenbaren sich
auch in dieser Plastik, die ebenso den Namen
„Elektrischer Funke", wie den des Kusses führt.
Hier liegt im Grunde eine Allegorie vor. Das
Zueinanderstürzen des positiven und negativen
Stromes der Elektrizität hat in der Phantasie des
Künstlers das Bild von Mann und Weib an-
genommen, die sich in stürmischer Liebe küssen.
Eine sehr geistvolle Allegorie, die zudem von
Wärme und Empfindung so stark durchseelt ist,
daß von des Gedankens Blässe wahrlich nichts
übrig bleibt. Der Schwung, der diese aufwärts-
führende Gruppe beseelt, wird durch die Linien des langen Tuches, das Weib wie
Mann umschlingt, aufs glücklichste variiert: liegt hier ein freies, abgeklärtes Pathos
über dem Ganzen, so kommt eine dumpfe, leidenschaftliche Glut in Stephan Sindings
„Zwei Menschen" zum Ausdruck. Schon die Haltung des am Boden knienden
Paares ist charakteristisch; heiß, lange und sinnbetörend küßt der Mann das Weib in
seinen Armen, als wollten sie miteinander verschmelzen, ineinander aufgehn.
In starkem Gegensatz hierzu steht Erich Schmidt-Kestners Gruppe. Mit Schild
und Speer sitzt schon der Krieger auf seinem Roß, dessen mutiges Vorwärtsdrängen
er mit Mühe bändigt. Da beugt er sich noch einmal herab, um das Weib, das
an seiner Seite steht, an sich zu ziehen. In diesem Kuß des Abschieds liegt mehr
ein schmerzliches Sich-Lösen als stürmisches Zueinanderverlangen. Ebenso spielt in
Ferdinand Lepckes „Überrascht" nicht stürmische Leiden-
schaftlichkeit die führende Rolle. Ein Jüngling hat die
Geliebte beim Wasserholen getroffen und zieht die Wehr-
lose im Kusse an sich, wobei freilich Überraschung,
Freude und Humor schließlich in den Akkord inniger
Liebe ausklingen.
Das neugierige Tasten im Kuß erster Liebe hat
Gustav Eberlein dargestellt, indem er zu dem Mädchen
nicht eine Mannesgestalt, die zu kräftig gewirkt haben
würde, sondern einen Amor führt, der wie ein Bienchen
den Honig der Liebe auf ihre Lippen träufelt. Ängst-
lich hält sie dabei seinen Köcher mit den Pfeilen fest,
damit er sie nicht verletzen könne.
Eine weit schlichtere und tiefere Wirkung als von
diesem etwas novellistischen Motive geht von Artur
Lewin Funckes „Mutter und Kind" aus — einem Werke,
dessen Formen den Gehalt tiefster .und innigster Emp-
findung auf rein plastischem Wege übermitteln. Eine
Mutter hat ihren schlummernden Säugling aufgehoben,
um in stummer Selbstvergessenheit das hilflose Wesen
voll tiefen schweigenden Glückes zu küssen. Dabei ent-
spricht die Reinheit der Linien, die z. B. der Rücken
der Knienden in voller Schönheit zeigt, der Zartheit
dieses Vorganges.
So iiat sich unwillkürlich der Kreislauf geschlossen.
Auch hier ist es wieder der alte Vorwurf der Kunst —
Mutter und Kind — der in edler künstlerischer Durch-
bildung, bei völlig irdischer Auffassung, der dennoch
die Verklärung innewohnt, seine tiefe Wirkung ausübt.

A. Lewin Funcke: Mutter und Kind.
Verlag der Neuen Photographischen Gesellschaft A.-G., Steglitz-Berlin.
 
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