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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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17. Heft
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Kahle, A. W. J.: Allerlei vom Kuß
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0493

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208

MODERNE KUNST.


war es erlaubt einander auf den Mund zu küssen. Die Kaiser pflegten beim Einzuge
in Rom die Senatoren auf den Mund zu küssen, und diese hohe und ausnahmsweise
Gunst sollte ihnen das unumschränkte Vertrauen beweisen, welches der Kaiser in sie,
als seine Getreuen, setzte.
Auch der bei uns jetzt mehr und mehr zurücktre.tende Handkuß war bei den
Römern ein besonderes Zeichen der Ehrerbietung und Hochachtung. Als Cato, so
erzählt Plutarch, von seinen Provinzen abreiste, drängten sich Damen hinzu, um seine
Hände zu küssen, — ein bis dahin unerhörter Vorfall, der einen ungeheuchelten
Beweis der hohen Achtung gab, die der große Mann sich auch bei ihnen erworben
hatte. Wie viel Wert erhält durch diese Deutung der Handkuß der Alten; die Römer
betrachteten ihn nicht nur als Zeichen der Anhänglichkeit, der ehelichen Liebe und
Hochachtung, sondern auch in ihren Rechtshändeln legten sie ihm eine Kraft bei, die
Zeugnis für den hohen Wert und das fast religiöse Ansehen gibt, in dem er bei ihnen
stand. In dem Corpus juris findet sich ein Gesetz, das die Juristen später das Recht
des Kusses genannt haben. Es handelt von den Verlobungsgeschenken und deren
Zurückgabe an die Familie, falls vor Vollziehung der Vermählung die Braut oder der
Bräutigam küssen. Es wird darin bestimmt, daß, wenn die Geschenke von einem Kuß
begleitet waren, bei des Bräu-
tigams Tode die Hälfte davon
der Braut oder deren Erben
verbleiben mußten. Diese Be-
vorzugung der Braut vor dem
Bräutigam, der in gleichem
Falle leer ausging, begründeten
die Rechtsgelehrten damit, daß
bei der Ehrfurcht, welche man
damals der Keuschheit und
Sittsamkeit der Matronen und
Jungfrauen zollte, ein Kuß ein
Opfer war, zu dem das Mäd-
chen sich aus Liebe zum Ver-
lobten he'rbeiließ; und das
Recht des Kusses war somit
ein Ersatz des Schadens, den
die jungfräuliche Reinheit in
der Tat durch den ersten
Männerkuß erlitt.
Der eigentliche Stifter
dieses Gesetzes war Kaiser
Konstantin. Es war anfangs
eigentlich für die Spanier ge-
geben worden, wie es noch die
Über- und Unterschriften be-
weisen und fand auch später
Eingang in die Gesetze der
Franken und anderer Völker.
Die Spanier haben es lange
unter allen Revolutionen bei-
behalten, die Herrschaft der
Vandalen, der Sueven, Goten,
Mauren und Sarazenen haben
dieses Gesetz nicht erschüttern
können. Auch in Frankreich
existieren Spuren dieses alten
Rechtes in den Berichten fran-
zösischer Historiker. Mit der
Zeit verloren aber die Küsse
in Frankreich sehr an Wert.
Es gab sogar eine Zeit, wo bei-
nahe jeder und jede sich küßten — was mitunter nicht zu den Annehmlichkeiten gehörte.

Woldemar Friedrich: Ilsefall.

Unsere Sitten sind weit davon entfernt, den süßen Liebeskuß für eine Unsittlich-
keit zu halten. Bei uns ist er niemals von besonderer kulturhistorischer Bedeutung
gewesen. Er figurierte in den grünen Eichenhainen, in denen Wodan und Freya
thronten, weder als Teil der religiösen Feierlichkeiten, noch haben sich die Gesetze
besonders eingehend mit seiner Taxierung beschäftigt. Das kam vielleicht daher, daß
im Verkehr der germanischen Völkerschaften der Kuß dem biderben Handschlag
gegenüber entschieden eine sekundäre Rolle spielte,
* *
Wohl nirgends hat sich die Romantik so rein erhalten wie in den schönen Teilen
der westlichen Karpathen, im malerischen Waliontale, dem Paradiese Siebenbürgens.
So existiert der Kußmarkt zu Halmagen, einer rumänischen Gemeinde mit 1200 Seelen.
Hier wird am Tage des Heiligen Theodor ein Jahrmarkt abgehalten, an dem die
Bewohner von etwa 80 Dörfern teilnehmen. Besonders zahlreich wird die Stadt von
neuvermählten Frauen, die als Jungfrauen geheiratet haben, besucht; die wiederver-
heirateten Witwen bleiben dem Markte fern. Die jungen Frauen, von ihren Schwieger-
müttern begleitet, sind geschmückt und tragen Weinkrüge, die mit Blumen bekränzt
sind; wer ihnen begegnet, wird geküßt und darf aus ihren Krügen nippen, wofür er
ein kleines Geschenk gibt. Geküßt wird überall, auf der Gasse, in den Weinstuben,

in Privathäusern usw. Wegen des Ursprungs dieser Sitte glauben die einen, daß der
Kußmarkt aus der Zeit herrühre, als das weiße Tal der Crisch noch von den Motzen
bewohnt war. Die ihnen in Halmagen begegnenden Kolonisten äußerten ihre Freude
dadurch, daß sie jene umarmten und küßten. Jene aber beehrten die wieder Ab-
ziehenden durch Geschenke. Andere meinen, daß die Crischer, die Schäfer waren, zu
Frühlingsanfang das flache Tal verließen, um die Schafe auf die Berge zu bringen.
Die sie begleitenden Frauen verabschiedeten sich, indem sie sie küßten und für den
Kuß eine kleine Aufmerksamkeit erhielten.
* *
*
Wohl in keinem Lande ist der Verkauf von Küssen so beliebt wie in Amerika.
Auf einem Wohltätigkeitsfeste erzielte eine schöne Schauspielerin für einen Kuß
4000 Dollar = ca. 16000 Mark. Mit etwas weniger begnügte sich jüngst eine Dame
in Philadelphia, welche einen Herrn verklagte, weil er sie heimlich geküßt hatte. Sie
verlangte das ansehnliche Sümmchen von 5000 Mark, das ihr das Gericht auch zu-
erkannte. Daß eine solche Verurteilung auch angenehme Folgen haben kann, beweist
nachstehender Fall: In den Läden eines Melbourner Kaufmanns kam eines Tages eine junge
Dame, die vom Inhaber ohne Gegenliebe geküßt wurde. Entrüstet verließ sie das Ge-
schäft und verklagte den Kuß-
räuber. Das Urteil wurde, wie
üblich, öffentlich bekannt ge-
macht. Kurze Zeit darauf
erhielt der Verurteilte das
Schreiben eines Notars und
ersah daraus, daß er der Erbe
eines großen Vermögens ge-
worden war. Der Notar hatte
seit Jahren versucht, ihn aus-
findig zu machen, doch ohne
Erfolg. Der Kaufmann segnete
die junge Dame, die ihn beim
Gericht angezeigt hatte.

Ein historischer Kuß ist
jener Kuß, den Napoleon III.
der Königin Viktoria gab, als
sie kurz nach Beendigung des
Krimkrieges Frankreich be-
suchte. Der Kaiser von Frank-
reich küßte die Königin auf
die Wangen, so eingenommen
war er von ihr. Seinerzeit war
für die Reisenden, die nach
Glasgow fuhren, ein seltsames
Schauspiel zu sehen; vor den
Stationsgebäuden und auf den
Bahnsteigen standen gruppen-
weise junge Mädchen mit
Plakaten, auf denen in Riesen-
schritt zu lesen war: „Hier
sind Küsse zu verkaufen!"
Der männliche Teil des Reise-
publikums interessierte sich
dafür, und nach kurzem Ver-
handeln kam ein lebhafter
Kußverkehr in Gang, der die
Sammelteller der handelseifri-
gen Schönen im Handum-
drehen mit Silbermünzen füllte.
Der Kußhandel fand zum Besten der ausständigen Arbeiter des an der Westküste des
südlichen Schottlands gelegenen Fabrikstädtchens Neilston statt, dessen Bevölkerung
durch, den in der Grafschaft Renfrev ausgebrochenen Generalstreik, der 50000 Arbeiter
zum Feiern gebracht hatte, in eine schwere Notlage versetzt wurde. Den Anlaß zu
dieser originellen Sammlung für den Streikfonds gab die Bemerkung eines alten
Arbeiters, der einem für die Ausständigen sammelnden Mädchen einen Schilling mit
den Worten überreichte: „Hier, mein liebes Kind, für einen Kuß von Ihnen!" Dieser
Gedanke wurde sofort aufgegriffen und mit freudigem Eifer in die Praxis umgesetzt.
Bei den Slawen scheint man sich auf das Küssen besser zu verstehen, als bei Germanen
und Romanen. Die Deutschen kennen in der Schriftsprache nur das Wort „Kuß“,
andere Bezeichnungen, wie „Busserl", „Säulen" usw. sind mundartlicher Natur. Die
Römer hatten demgegenüber drei Bezeichnungen: osculum, suavium und basium. Die
Italiener haben nur den dritten, niedrigsten Ausdruck übernommen und ihr „bacio"
daraus gebildet. Die Spanier sagen beso, die Portugiesen bejo und oslulo. Die Fran-
zosen verwenden das Zeitwort baiser gar nicht, sondern drücken „küssen" durch
„embrasser" aus. Die Engländer haben nur kiss und das unschöne smack. Dagegen
sind die slawischen Sprachen an Bezeichnungen für das Wort Kuß sehr reich. Die
Wenden haben mindestens fünf, die Polen vier und die Illyrer sogar zehn, von denen
eine — „poljubljenje" — so lang ist, daß sie eigentlich nur für den berühmten
amerikanischen „Seelenkuß“ gebraucht werden dürfte.
 
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