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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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18. Heft
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Buss, Georg: Berliner Architektur und Kunstgewerbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0529

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MODERNE KUNST.

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schwer definierbare „Schlüterstil'' empfohlen, auf die Potsdamer Wohnbauten
der Friedericianischen Zeit hingewiesen, und nun ist der „neue“ Stil proklamiert,
der in Wirklichkeit ebenso wie die heutige Mode ein Abklatsch des Zopfes ist.
Kirchen, öffentliche Gebäude und Wohnhäuser spiegeln diese verschiedenartigen
Rückgriffe deutlich wieder. So stellt sich die architektonische Physiognomie
Berlins als ein aus allen möglichen Stilarten zusammengesetztes Mosaik dar, dem
die wohltuende Harmonie fehlt.
Es versteht sich von selbst, daß die im Schachte der Vorzeit ruhenden Gold-
barren gehoben werden, aber sie sind auszuprägen in kursfähige Münze. Andre
Zeiten — andre Sitten und Bedürfnisse. Diese nicht in vollem Maße zu berück-
sichtigen und unter Verzicht auf eigne künstlerische Zutat lediglich die Eigenart
vergangener Stilepochen aufzuwärmen oder einer gerade herrschenden Mode-
strömung zu folgen, ist kein Dienst im Sinne der wahren Kunst. Not tut eine
Freiheitsbildung, die, ohne vom Strome sich fortreißen und vom Streite der
Meinungen beeinflussen zu lassen, klar und scharf die vernünftigen Forderungen

hohen Warte historischer Betrachtung zu einer klar erkennbaren Einheit zu-
sammenfließen und sich als Stil der Epoche erweisen. Vom Stil unserer Tage
schon heute zu reden, ist verfehlt — das zu tun, sei der Zukunft überlassen, die
das rechte Wort für ihn finden wird.
Wenn jetzt mit dem Zopf geliebäugelt wird, so liegt der Grund an dem
ornamentalen Karneval, der vor Jahrzehnten in Architektur und Kunstgewerbe
Einzug gehalten und sich seitdem breit gemacht hatte. Die Übersättigung konnte
ja nicht ausbleiben. Der sogenannte neue Stil ist eben ein Protest gegen den
ornamentalen Schwulst, ganz so wie der Zopf mit seiner antikisierenden, steifen
und nüchternen Bau- und Dekorationsweise zur Zeit Ludwigs XVI. ein Protest
gegen das Schnörkelwesen des Rokoko war. Der Zopf war nur eine Episode,
steuerte er doch alsbald mit vollen Segeln in den Klassizismus, und der neue
Stil wird ebenfalls nicht von langer Dauer sein, denn als Ziel winken, mag man.
es jetzt auch noch leugnen, Schinkel und die hellenische Renaissance.
Zurzeit lachen befriedigt die Herren Bauunternehmer, denn der neue Stil


Franz Hecker: Quartett. (Radierung.) Aus dem Kunstsalon Keller Sc Reiner, Berlin.

der Gegenwart ins Auge zu fassen und ihnen nach Möglichkeit den künstlerisch
geklärten Ausdruck zu geben sucht. Leider sind schöpferische Kräfte solcher
Qualität nicht häufig zu finden, obwohl die Redensart von den starken Individuali-
täten heute mehr als je im Schwange ist.
Mit der Bezeichnung „neuer Stil“ wird viel Mißbrauch getrieben. Der
schnelle Wechsel der „Stil-Nouveautes“ bezeugt am besten, daß es sich mehr
um modische Launen, als um ernste Kunstideale handelt. Man „schafft“ jetzt
einen Stil. Nun, Männer, die, wie Viollet-Le-Duc, einer der hervorragendsten
Gotiker des 19. Jahrhunderts, sich um die Erfindung eines neuen Stils heiß
bemühten, nahmen schließlich davon Abstand, in der weisen Erkenntnis, daß ihr
Einfluß doch nicht hinreiche, um der Kunst ihrer Zeit den charakteristischen
Stempel aufzudrücken. Sie sahen ein, daß die Eigenart einer Epoche, die man
„Stil“ nennt, nicht das Ergebnis verstandesmäßiger Reflexion sein kann, sondern
aus einer andren Quelle fließt: aus den im sozialen Leben unbewußt und naiv
sich äußernden Regungen der Volksseele. Literatur, Theater, Kunst, Tracht,
Verkehr, Politik, Heerwesen, kurzum alle menschliche Betätigung wird wie mit
geheimen Zauberfäden durchsetzt von gewissen Eigentümlichkeiten, die vor der

ist billig — er fordert wie zur Zopfzeit Einfachheit in der Fassade und, angeb-
lich zur Steigerung des Behagens, Wohnräume von nur mäßiger Größe. Der
Berliner Grund und Boden ist teuer — ihn nach Kräften auszunutzen, gehört
zum Geschäft des Unternehmers. Also werden unter der Flagge des modernen
Stils aus fünf oder sechs Zimmern sieben oder acht geschnitten, denn je größer
ihre Zahl, um so „herrschaftlicher“ ist die Wohnung und um so höher der Miet-
zins. Unter derselben Flagge erhalten auch sämtliche Geschosse geringere Höhe,
so daß als Profit ein stattliches Mansardengeschoß herauskommt. Dazu eine
Fassade, die gegen früher eine ins Extrem getriebene ornamentale Nacktheit
bedeutet: sie ist wenig mehr als eine gestockt oder glatt geputzte tiefgraue
Mauer mit Eingang und Einfahrt, weiß gesproßten Fenstern, üblichem Erker und
schmalem Dachgesims. Wo ihre fabrikmäßige Physiognomie sich in Straßen-
fronten eindrängt, entstehen die abscheulichsten Dissonanzen. Leider mehren
sie sich auch im alten Westen, der überhaupt seinen früheren Charakter als
ruhiges, vornehmes Wohnviertel unter den eindringenden Geschäftsbauten mehr
und mehr verliert. Zwar ist in den Quartieren der City, im Revier der König-
straße, der Behrenstraße, des Hausvogteiplatzes und der Ritterstraße, wo der
 
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