Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI Heft:
18. Heft
DOI Artikel:
Neisser, Artur: Frühling in der Musik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0535

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


234

MODERNE KUNST.

erhalten haben, bis in unsere Tage hinein, da
allerlei Neben-Modeströmungen die klaren
Waldbäche des Volksliedes in die trüben
Abwässer flacher Couplets leiten wollen. „Der
Lenz ist gekommen", in allen Kultursprachen
der Erde singt sich der Jubel über des Früh-
lings Nahen frei. Dabei ist es charakteristisch,
daß grade die nordischen Völker, zumal die
Deutschen, die Russen und die Skandinavier
den Frühling mit rührender Seligkeit be-
grüßen. Je langsamer, je später in diesen
rauhen Ländern die Natur aus ihrem Winter-
schlaf erwacht, desto bedächtiger erfreut man
sich an dem Sprießen und Blühen. Wir
brauchen nur die Briefe unserer großen deut-
schen Tondichter an ihre Angehörigen und
Freunde zu lesen, etwa diejenigen unseres
Robert Schumann oder Schuberts oder die
Ergüsse des unglücklichen Hugo Wolf an
seine wenigen Vertrauten, um diesen unsern
Lieblingen innigst nachzufühlen, mit welcher
ungestümen Freude sich der Genius der
Schaffenden alsbald des Sonnenerwachens im
Frühling bemächtigt und mit welcher echt
künstlerischen Weisheit sich unsere großen
Tonheroen grade der Frühlingszeit bedienen,
um ihre Arbeit von innen heraus zu gestalten
und um aus dem Schöpferrausch der Natur
die Lehre für das eigne rauschvolle Schöpfen,
für das brandende Muß ihres Genies zu ziehen.
Man mag heute von extrem moderner Seite
noch so viel an Schuberts naiv musikalischer
Interpretierung der Lyrik unseres Goethe her-
ummäkeln: seine Frühlingslieder zeigen nichts
von hilfloser Musikantenkindlichkeit. Zum Glück
für uns Nachgeborene hat es vor hundert Jahren
in Wien noch einen Sänger des Frühlings gegeben, der nicht von Symbolik angekränkelt
war; Schubert, dieser in der Liebe so wenig beglückte kleine häßliche Musikant, wurde
doch zu echten Lenzeswonnen begnadet, wenn er „im Grünen" sich erging oder wenn
er seinem Sängerfreunde Vogl seine Lieder begleitete, und wenn die lieblichen Wiener
Schwestern Fröhlich seine Lieder sangen von Lenzes Freude und Liebe, dann erwachte
auch in seinem Herzen die Liebesillusion! Noch erschütternder übermannt uns die Macht
des Frühlings, wenn wir jener Tondichter gedenken, die, wie Robert Schumann oder wie
Hugo Wolf, frühzeitig in die Nacht des Wahnsinns versanken und die doch mit so
berückender Glut von „Dichterliebe und Leben“ sangen oder von dem brausenden
Nahen des Frühlings Kunde gaben. Was sind letzten Endes alle diese Wanderlieder,
die durch die Liedliteraturen aller Zeiten und Völker gehen, anderes als Frühlings-
sänge? Und ist es nicht ein stolzes Wahrzeichen grade auch des deutschen Natur-
enthusiasmus, wenn die Bierbaum, die Liliencron usw. auch noch in unsern Tagen
kongeniale Interpreten finden? Grade Richard Strauß, er, der von seinen Gegnern

noch immer so gern als der „Komplizierteste"
unter den Modernen betrachtet wird, hat in
seinen Liedern echte Melodiemusik gedichtet: er
hat all’ seine bajuwarisch gebirglerische Natur-
liebe in diese seine Lieder ausströmen lassen,
die vielfach unsterblich schön sind, weil sie direkt
aus dem Bergquell der volksmäßigen Frühlings-
melodik herstammen. Oder denken wir an
Mendelssohns „Lieder ohne Worte“. Schon in
diesem Titel singt es, wie im Frühlingslaub.
Wenn irgendein Oberweiser einmal zu diesen
Liedern, darunter auch zu dem besonders popu-
lär gewordenen „Frühlingslied", einen Text hin-
zuzudichten den Drang empfunden hat, so hat
dieser arme Tor damit den feinen Blütenstaub
von diesen weichen Gebilden hinweggeblasen.
Unwillkürlich wird das Menschengemüt im
Frühling milder, mitteilsamer. So ist sicherlich
die Idee des Männergesanges während der Wan-
derung froher Genossen im Frühlingswald ent-
standen, und es hängt vielleicht mit dem Ersatz
des Wanderns durch den Fahrrad- oder gar mit
dem Aufkommen des Flugsports zusammen,
wenn der Männergesang heute den Ruf der
Liedertafelei erhalten hat! Nicht genug kann
daher die immer erneute Pflege des gemein-
samen Wanderns und des Singens empfohlen
werden, damit die echt deutsche Singefreudig-
keit nicht aussterbe; eine Warnung, die mir kein
philiströser Teutonen-Fanatismus, sondern die
Erinnerung an die zahllosen Frühlingskantaten
und Chordichtungen eingibt, die gerade dem
Lenze ihre Entstehung verdanken. Schon in
einem Rameauschen Werke, im 17. Jahrhundert,
finden wir eine Betonung des Frühlingsmäßigen,
eine Schilderung des Vogelsanges, der dann
weiterhin in der Musikgeschichte fast einen Sonderzweig bildet. Haydn läßt in seinen
„Jahreszeiten" die Jubelhymnen der Vögel erschallen, Franz Liszt hat die „Vogelpredigt"
zu einer seiner schönsten Klaviertondichtungen verdichtet, und ein moderner Franzose,
Gabriel Pierne, hat des heiligen Franziskus von Assisi Ansprache an die gefiederten
Sänger gleichfalls, aber mehr in vokal eigenartiger Gestalt, in den komplizierten Körper
seines Orchesters gezaubert.
Letzten Endes sind auch alle Osterhymnen und Messen Gesänge an die Auf-
erstehung; es sind Dankeslieder einer erlösungssehnenden Menschheit an den Schöpfer
alles Irdischen. In diesem Sinne ist vof allem das innige Hineinragen des Frühlings
in die dramatische Produktion unserer Tondichter zu verstehen. Der Erlösungs-
gedanke, der bei Wagner und teilweise schon bei Gluck, so vielfache Gestalt ange-
nommen hat und der sich durch alle Tondramen des Meisters zieht, spricht sich im
Nibelungendrama besonders eindringlich aus. Nicht umsonst ist der erste Akt der
„Walküre“ ein einziges Jubellied an den Frühling. Um Siegfrieds leuchtende Sieger-
stirn webt die flirrende Sonne des Waldesfrühlings ihre
Schleier. Nicht umsonst hält Jung-Siegfried gar vertraute
Zwiesprache mit den Waldvögeln und nicht zufällig hat
Wagner mit der ganzen, ihm zu Gebote stehenden Liebe
zur Heimat in das „Waldweben“ den ganzen Zauber der
vom Frühlingswind bewegten und erregten Natur gelegt,
um dann im „Parsifal“ dieses Naturerwachen zum Symbol
alles durch sich selbst Erlöstwerdens zu erheben. Nicht
bloß die Blumenmädchenszene, sondern vor allem der ganze
Schlußakt, mit den Weihen der Erdenbefreiung, ist von der
Sehnsucht nach dem symbolischen Frühling durchbebt, die
in wundervoller Weise den Erlösungsgedanken des Wagner-
schen Gesamtkunstwerkes bekrönt.
Ganz besonders aber macht sich die Frühlingsfreude
in der elementarsten aller musikalischen Lebensäußerungen
frei, im Tanze. Hier ist es schon vom 17. Jahrhundert
an, die Suite, die dann auf die Tanzlieder in Frankreich, aber
auch in Italien und England und von da aus in Deutsch-
land großen Einfluß ausgeübt hat. Yvette Guilbert hat
neuerdings diese alten Tänze ihrer Heimat nach Deutsch-
land gebracht. Man hat es ihr vielfach zum Vorwurfe ge-
macht, daß sie sich ein paar ganz jugendliche Tänzerinnen
mit auf die Tournee genommen hat, weil dadurch ihre
Diseusenphysiognomie sich im literarischen Sinne etwas ver-
flacht hat. Wenn ich die Künstlerin recht verstehe, will sie
gerade durch diese Zuhilfenahme des Tanzes das lebens-
volle Bild des Mittelalters neu erstehen lassen und ein wenig
Sonnenduft in die deutschen Konzertsäle hineintragen!
Kann man ihr das verargen? Ist nicht diese Versinnlichung

Paul Wegener als Amtmann in „Kronbraut“.
Phot. Willinger, Berlin.

Irene Triesch als „Kronbraut".

Phot. Willinger, Berlin.
 
Annotationen