Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI issue:
20. Heft
DOI article:
Anwand, Oskar; Ury, Lesser [Ill.]: Lesser Ury
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0601

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
2$0

MODERNE KUNST.

das Gewirr der Großstadt, wie es sich am Bahnhot Friedrichstraße in Berlin mit den
rauchenden und zischenden Lokomotiven auf der Überführung, den herandrängenden
Wagen, die zu dem Bahnhof eilen, und der hastenden oder promenierenden Menge mit
lebendiger Kraft aufleben .läßt. Man könnte im Prinzip vielleicht an Pissarro denkem
doch auch hier tritt Lesser Ury persönlich auf. Denn während zwar das Straßengewoge
bei Pissarro ein beliebtes Motiv ist, wird man die Wiedergabe künstlicher Lichtquellen
wenigstens in dieser Art bei ihm kaum finden. Oder Lesser Ury zeigt ein elegantes
Paar beim Eintritt ins Cafe, während auf den Gesichtern der beiden tiefe Schlag-
schatten liegen, und die bestrahlten Flächen ein bleiches Weiß aufweisen. Das alles
sind Kühnheiten, die damals Verwunderung, Widerspruch oder freudige Zustimmung
hervorriefen. Überhaupt lockte den Künstler gleich dem lauten Getriebe der Straße
auch das stillere Treiben in den Cafes mit der gleichfalls regen, aber mehr vergeistigten
und leiseren Geschäftigkeit oder Ruhe, in die wiederum elektrische Glühkerzen und
Gasflammen ihr Licht flirren und summen
lassen. Auf Motive dieser Art kam er auch
in späterer Zeit wiederholt zurück, wie unsere
Abbildung seiner Arbeit „Im Cafe" beweist,
die erst 1913 entstanden ist.
Dennoch sind wir hier noch nicht zu
der Kunst Lesser Urys gelangt, an die man
unwillkürlich denkt, wenn sein Name genannt
wird. Damals war Lesser Ury noch ein Im-
pressionist äußeren Lebens; er sollte mehr
und mehr ein Impressionist seiner seelischen
Eindrücke werden, zu denen ihm die Natur
nur die Grundlage bot. Auf ihn könnte man
mit vollem Recht das Wort „Expressionist"
anwenden, wenn es nicht durch die Un-
fähigkeit zahlreicher, kraftloser, junger Ex-
perimentatoren bereits einen üblen Beige-
schmack erhalten hätte. Gegen Anfang der
neunziger Jahre begann Lesser Ury aus Berlin
selbst in seine weitere Umgebung, vom Grune-
wald aus gerechnet, zu pilgern, um hier Keime
für seine Arbeiten zu empfangen. Er ver-
tauschte die Weltstadt also mit reinerer Natur,
die von der Kultur weniger berührt war, ihm
für sein Innenleben freiere Ausdrucksmöglich-
keiten gestattete und sozusagen schlichter
atmete. Und er vertauschte nicht nur seine
Motive, sondern mit ihnen seine malerische
Technik, indem er sich von dem schwereren
Öl zum Pastell wandte, dem ein Hauch durch-
geistigter Leichtigkeit innewohnt, das leiseren
Regungen fügsamer nachgibt und nicht die
trübe Mischung der Farbe zuläßt, sondern
ihre ursprüngliche Reinheit bewahrt. Auf
diesem Gebiete sollte Lesser Ury sein Eigenstes
leisten! Eine Reise nach Italien half ihm wohl
noch dazu, das märchenhafte, traumgeborene
Element leuchtender Töne zu finden, wie er
es für seine Arbeiten brauchte. Sie half ihm
freilich nur insoweit, als Lesser Ury mehr und
mehr die Berechtigung für den Rausch der
Farbe fand, der in ihm lebte; nicht als ob
Italiens Landschaft ihn hierin mit Gaben der
Wirklichkeit beschenkt hätte. Denn aus. dem
Rea'isten hatte sich in aller Stille und Ent-
schiedenheit der Romantiker entwickelt.
Von dieser Pastellkunst Lesser Urys,
der ein lyrischer Charakter, d. h. ein hoher
Reiz des Innerlich-Erlebten innewohnt, geben
unsere beiden farbigen Abbildungen eine Vorstellung, obgleich es auch ihnen nicht
möglich ist, die hauchartige Zartheit der. Zwischentöne z. B. im Abendhimmel festzu-
halten. Lesser Ury liebt den Abend und sein geheimnisvolles Element. Mag er mit
schweren, regnerischen Wolken heraufziehen, die wie ein Vorhang oder Mantelsaum den
Himmel bedecken, mag er den Horizont in Dämmerung verweben oder zitternde Birken-
kronen, sei es mit goldenem, rötlichem Glanze krönen, sei es mit Dunkel erfüllen!
Aber der Künstler braucht den Abend durchaus nicht, das helle Sonnenlicht reicht ihm
vielleicht noch stärkere Farbenwunder. So gewinnen Rapsfelder im Sonnenschein bei ihm
einen fast unwirklichen Glanz, auf den. die Schatten der Bäume im tiefen Violett liegen,
oder Lesser Ury gibt nichts als, ein Stückchen Meeresufer mit leuchtendem Seetang
wieder. Der Frühling ist bei ihm der Inbegriff höchster Zartheit in Glanz und zittern-
den Formen. Alles gewinnt Beziehungen zu; einander und erhält ein eigenartiges Leben,
das uns ins Weben des All versenkt. Lesser Urys Landschaften entsteigen also jenem
Urgründe aller Kunst, aus dem Dichtung, Kunst und Musik in gleicher Weise hervor-
gehen müssen, wollen sie nicht in Lebensnachahmung stecken bleiben. Glücklicher-
weise ist die Zeit des offenen und verkappten Naturalismus, der ein derartiges Empfinden
als „poetisch" d. h. „literarisch“ verdächtigen wollte, endgültig vorüber.

Zu Offenbarungen, die über den Alltag hinausgehen, ward Lesser Ury in doppelter
Weise gedrängt. Während die Öffentlichkeit annahm, daß der Künstler in diesen Land-
schaften von unendlicher Feinheit sein endgültiges Ziel gefunden habe, zeigte er sich
plötzlich auf neuem, ja man kann sagen entgegengesetztem Gebiete: dem Monumental-
gemälde dekorativen Stils. Aber auch hier fehlt die Verbindung nicht: an die Seite
des Dichters der Farbe ist der Dichter der Gestalt und des Umrisses getreten. Wenn
dort das Gefühl fast allein herrschte, so kamen hier auch Verstand und Wille zu ihrem
Rechte; man kann ebenso sagen, daß der Dramatiker den Lyriker zeitweise ablöste.
Und wieder fühlen wir das Flügelrauschen und den weiten Horizont der Ewigkeit; ja
an diesen Gemälden, deren Motive Lesser Ury dem Allgemeinmenschlichen oder der
alttestamentarischen Welt entlehnte, wird es besonders ersichtlich. Das gilt z. B. von
seinem Triptychon: der Mensch. Auf dem ersten Bilde sehen wir den Jüngling in
Zukunftsträumen dem Vöglein im sonnenhellen Walde lauschen. Das zweite zeigt den
Mann in prometheischem Trotz, seiner Kraft
sich vermessend, den Göttern drohen. Auf
dem dritten sitzt der Greis, dessen Streben
erlahmt ist, zusammengesunken am Meere, d.h.
an dem Rande der Ewigkeit, während die
Sonne untergeht. Dieses Riesengemälde ist
von starker monumentaler Wirkung und bester
Gliederung, so z. B. in dem Pyramidenaufbau,
welchen die drei Gestalten der drei Bilder
ergeben. Wenn ja etwas die Einheit beein-
trächtigt, so wäre es die Waldnatur des ersten
Bildes, die als ein Vielerlei impressionistisch
gehalten ist, während die Natur auf dem
zweiten und dritten Bilde durch wenige monu-
mentale Linien wirkt. Monumental ist auch
Lesser Urys Gemälde „Jerusalem“ empfunden,
das eine Schar Juden auf einer Bank am Meere
darstellt. Man könnte diese Bank als die Bank
des Lebens, das Meer wiederum als die Ewig-
keit und die verschiedenen Typen der Juden
als die jüdische Nation bezeichnen, mit solcher
Danteartiger Wucht und Ideentiefe ist das Ge-
mälde erfaßt. Oder Lesser Ury gibt Jeremias
in tiefem Grübeln auf einem Stückchen Erde
wieder, das sich wie die Erdkugel rundet und
den Sternen hoch oben in blauer Stille ent-
gegenzukreisen scheint. Auch die von uns
reproduzierte Arbeit „David und Jonathan"
zeigt die Kunst der Gestaltenbildung dieses
Künstlers. Blickt man von hier aus auf seine
Landschaftsträume zurück und bedenkt, daß
Lesser Ury auch im Porträt, das doch auf der
Einzelerscheinung des Dargestellten und nicht
auf typischen Zügen beruht, also diesem
Maler nicht besonders liegen konnte, gleich-
falls Gutes geschaffen hat — so muß man
seine Spannweite als bedeutend bezeichnen.
Sein höchstes hat er freilich auf seinem
eigensten Gebiete der Naturlyrik gegeben, die
mehr und mehr alles Wirkliche abzustreifen
scheint, so sehr sie auch im Grunde aus ihm
hervorgeht. Wenn man hier überhaupt je-
mand mit Lesser Ury vergleichen will, könnte
es höchstens Monet sein, als er die Themse
in Sonnenschein und Nebel malte. Ich denke
an zwei Pastelle des Deutschen, die seine
Kunst der letzten Zeit charakterisieren. Das
eine stellt Fasano am Gardasee dar, wie es
aus spiegelndem Wasser, im Hintergründe den
Monte Baldo, feuchtverklärt und Vineta-artig emporsteigt, so daß man den Atem
anhält, als könnte diese Schönheit wieder zerfließen. Bei dem Zweiten möchte
man von der Eroberung des Himmels und der Lüfte durch einen Äronauten der Kunst
sprechen. Hier fällt das Auge auf den gedämpften, roten Ball der Sonne, um die
sich Dunst in unendlich zartem Blau, Rosa und Gelblich breitet, während sie zu dem
Meere niedersinkt. Matt gibt sein Spiegel, der mit dem Himmel zusammensinkt und
in kräftigerem Rot endet, diese Töne wieder. Und dieses Farbenspiel zwischen Himmel
und Meer wird nur durch ein Stückchen Dünenlinie an unsere Erde gekettet. Unwill-
kürlich hört man die Verse der „Feldeinsamkeit" in sich anklingen: „Mir ist, als ob
ich längst gestorben bin und ziehe selig mit durch ewige Räume.“
Welches künstlerische Können ist erforderlich, solche verhauchende Stimmungen
festzuhalten, die man nur in der Sekunde erfühlen kann und aus Eignem wieder
hervorgehen lassen muß. Hier steht der Künstler der Natur als gleichwertiger Beherr-
scher zur Seite, ja Lesser Ury wetteifert auch in der Einfachheit seiner Mittel mit ihr.
Der tiefseelische Gehalt seiner Werke wird mit höchsfer Schlichtheit aus dem eigensten
Material des Malers erreicht. Es ist ein seltener Genuß zu sehen, mit welcher Rein-
heit die Farbe diese Wirkungen erzielt.


Lesser Ury: Im Cafe. Pastell.
 
Annotationen