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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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20. Heft
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Marilaun, Carl: Mexikanischer Bädecker
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0612

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(Pe^il^onisehep ßödee^ep.
Von Carl Marilaun.


Haran fehlt es nämlich noch in diesem Lande, dem es jetzt gefällt, uns
mit seiner Aktualität zu plagen. Der rotgebundene Reiseführer Mister
Snobs und Globetrotters, Abteilung Mexiko, ist noch nicht erfunden.
Es gibt noch keinen unfehlbaren Reiseführer durch das mexikanische Abenteuer,
das Rot des Bädeckerumschlages sucht man unter diesem fast tropischen
Himmel, wo es an Farben sonst nicht eben mangelt, nur vergebens.
Für den empfindsamen Reisenden, der in diesem Falle allerdings auch
einiges vom Teufelskerl an
sich haben muß, ist es natür-
lich ein erfüllter Wunsch,
über den mexikanischen Gl@-
bus landzufahren, ohne einer
Cookschen Reisegesellschaft
begegnen zu müssen. Dieser
Genuß wird ohnehin immer
seltener in unserm mit Rund-
billetts und allem Komfort
des Gesellschaftsreisens aus-
gestatteten Rundreisejahr-
hundert. Noch in Afrikas
Dschungeln gibt es Hotel-
portiers, die den nächsten
Zuganschluß verkünden, und
der Hindu mit dem träumeri-
schen Augenaufschlag ent-
puppt sich vor unserer Ab-
reise als ein Boy, der unsere
Stiefel geputzt hat. Das
Kamel, auf dem wir zu den
Pyramiden reiten, ist eigent-
lich ein von der Hotelkom-
pagnie aus Stimmungsgrün-
den mitgelieferter und in die
Zimmernote eingerechneter
Ausstattungsgegenstand, im
Schatten der Sphynx notieren
sich Herrschaften in Khaki
und Tropenhelm die letzten
Börsenberichte aus der Times,
und durch eine Wolke gelben
Wüstensandes galoppieren
nicht zweifelhafte Helden
unserer Kinderfabelbücher,
sondern eine elfenbeinfarbene
Limousine neuester, aber
schon allerneuester Konstruk-
tion schaufelt sich schnau-
bend und töffend gen Kairo,
über dessen Basardächern und
Moscheekuppeln jeden Abend
wie ein seltsames Sinnbild
eine aus elektrischen Glüh-
lampen gebildete Hotel-
reklame aufgeht.
Hingegen Mexiko. Auch hier wölbt ein Himmel, der an Bläue und Beständig-
keit dem indischen nichts nachgibt, sein faltenloses Zelt über Palmen, unter
denen es allerdings stimmungmordende Wellblechdächer gibt. Aber der Reisende
sucht umsonst die elektrischen Personenaufzüge, die in Kairos Hotelprospekten
auf der ersten Seite stehen. Nach der Marterfahrt in der famosen Veracruzbahn
erwartet uns kein Diningroom, sondern höchstens ein, aber schon sehr mangel-
haftes lischtuch in einer noch mangelhafteren Bar; Europa mit seinen neueren
Errungenschaften, von der Warmwasserleitung bis zu den Trinkgeldhänden des
Hausknechts, der unsere Koffer vertauscht, hat sich ein- für allemal für die Dauer
unserer mexikanischen Reise absentiert; es gibt keinen Fahrplan ins Abenteuer
und kein normal funktionierendes Reiseticket in dies Land der immerwährenden
Ausruf Zeichen. Infolgedessen bleibt der Globetrotter in Khaki weg; Mexiko ist
für den Herrn Snob in Breeches jene terra incognita, in der es sich noch ver-
lohnt und leider nicht vermeiden läßt, Abenteuer zu erleben.
Dieses Land hat andere Reize als den, ein von Cook und Compagnie ge-
pachtetes Raritätenkabinett für die Misses ihit dem grünen Reiseschleier zu
sein. Man gehe doch ein paar Schritte über.'die letzten, zwischen Dornbusch
und Sand verlorenen Wellblechhäuschen der Hauptstadt Mexikos hinaus, ins
Weglose; ins grüne Ungefähr der Prärie wage man seinen Schritt, wo man nicht

[Nachdruck verboten.]
mehr die Nummer einer'Reisegesellschaft und kein Passagier mehr, sondern ein
einsamer Wanderer jenseits der Welt ist! Mondschein legt ein starres Silber auf
Agaven, die sich gespenstisch im halben'Licht recken. Sterne steigen auf, flammen
wie glühendsilberne Stacheldrahtkränze über der grünwellenden Prärie, indes
der Westen noch blutig loht von einer Sonne, die in prasselnd flammenden Farben-
feuerwerken hinter dem violetten Horizont versank. Kaum nach Minuten be-
messen sich hier die Dämmerungen, und so glühendheiß der Tag war, so kalt
sind die Nächte, in denen
man erinnert wird, daß die
Hauptstadt dieses merkwür-
digen Reiches ungefähr ., in
Pilatushöhe liegt. Ein ver-
rücktes Klima, so gegensätz-
lich wie das Temperament
der Herrschaften hier, die
sich trotz neuesten Hosen-
schnittes und Pariser Absatz-
stiefelcjien nie allzuwohl in
ihren paar Lappen einer aus
Europa importierten und
reichlich mit Gänsefüßchen
zu versehenden „Kultur“
fühlen.
Aber es gibt Gott sei Dank
Leute, die es vorziehen, sich
in diesem reichlich romanti-
schen Land einem unbekann-
ten und möglicherweise nicht
sehr wohlwollenden Schicksal
in die Hände zu liefern, an-
statt am Fuße der Pyramiden
ein an den tausendjährigen
Stein gekleistertes Plakat
einer Automobilreifenfirma zu
studieren. — Nicht einmal in
Mexiko selbst, der Haupt-
stadt, ist man vor Über-
raschungen völlig sicher; je-
denfalls fehlt auch hier das
Palace- und Ritzhotel, das
man an den Ufern des heiligen
Ganges als stimmungmordend
inbrünstig verflucht, aber ei-
gentlich doch nicht gut lassen
kann. Wo sich in dieser sehr
merkwürdigen Kapitale Eu-
ropa zum Wort meldet, ist es
ein kitschiges, auf die Nerven
wie aufs Zwerchfell gehen-
des Talmieuropa. Daraufhin
braucht man nur bloß das im
üppigsten Rosa gefärbte, rie-
sige Regierungsgebäude auf
Mexikos „Plaza“ anzusehen,
oder man entzückt sich an der pompösen Ritterburg, in der der deutsche Gesandte
sicherlich nicht praktisch, aber außerordentlich dekorativ untergebracht ist.
Nicht einmal die aus edelstem Material erbaute Kathedrale macht eine besonders
erfreuliche Ausnahme. Es ist ein Millionenbau, im Innern strotzend von Marmor
und Gold; aber man preist die riesigen Eukalyptusbäume, die dieses prahlerisch
aufgeschwollene, unfeierliche, protzige Architekturwunder mit ihren grünen
Wänden barmherzig verhüllen. Turbulent, wie dies Völkchen, gebärden sich
hier eben auch die Häuser. Kultur ist ein von Herrschaften abgelegtes Kleid,
in dem sich das landesübliche Temperament aber sehr, sehr unbehaglich fühlt!
Die Zivilisation geht nach der letzten Pariser Creation (seien wir ehrlich: der
vorletzten!), aber im Busen birgt man doch die unbändige Sehnsucht nach der
Fellhose und den indianischen Hahnenfedern.
Ein barbarisches Land, dem sein Reichtum in den Wasserkopf stieg ? Mag
sein. Aber wer steigt in Mexiko an Land, um ein getreu abgeklatschtes Europa
zu finden! Man lernt im Gegenteil verblüffend schnell, in diesem Land der Wider-
sprüche genau das Gegenteil von dem zu finden, was man unter normalen Ver-
hältnissen erwarten würde. Man schiebt vor allem die Bekanntschaft mit den
öden, prahlerischen oder bloß schmutzigen Städten auf, läßt sich in den Sattel
eines rippenstarrenden, aber unendlich verläßlichen Reittieres pferchen, klappert

XXVIII. 20. Z.-Z.
 
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