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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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22. Heft
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Baumann, Felix: In der japanischen Sommerfrische
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0673

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In dep japanischen Sommepfpisehe.
Von Felix Baumann.

afcapperment, bekam ich einen 'Schreck! Bummele ich da ahnungslos am
Tp Strande entlang und bemerke eine niedliche Japanerin, die nur mit — einem
Sonnenschirm bekleidet war. Friedlich saß die kleine Madame Sansgene unter
dem aufgespannten Ombrelle und schien weltentrückt dem Gemurmel der Wellen
zu lauschen. Ich dachte, die Zeit und die Mode der paradiesischen Kostüme sei
in Japan längst vorbei, aber der Anblick zahlreicher gänzlich unbekleideter Männ-
lein, Weiblein und Kindlein beiderlei Ge-
schlechts, der vielleicht einen Staats-
anwalt in die hellste Verzweiflung und
Entrüstung versetzt hätte, belehrte mich
eines Besseren. Lustig plaudernd oder
munter im Wasser plätschernd vergnügte
sich das sorglose Völklein in dem kleinen
Seebade an der Pazifikküste und würdigte
den etwas aus dem europäisch-konventio-
nellen Konzept gekommenen Fremdling
kaum eines Blickes. Doch ich will gleich
verraten, daß in den größeren japanischen
Seebädern überall heute ,,Kostümzwang“
herrscht und mein geschildertes kleines
japanisches Badeerlebnis keineswegs als
die Baderegel im Lande der aufgehenden
Sonne aufzufassen ist, sondern nur, sagen
wir, als ein am japanischen Strande noch
hin und wieder anzutreffendes „Petrefakt“
alter Badesitten von anno dazumal be-
trachtet werden kann.
Sommerfrischen in J apan! Auch in
Nihon klettert im Hochsommer der Merkur
in seiner schmalen Röhre so hoch, daß Einheimische und Fremde schleunigst
zusammenpacken und ins Gebirge oder an die See enteilen. Die vornehme Welt
in Japan hat von jeher ihre herrlichen Gärten an höher gelegenen Plätzen in den
großen und kleinen Städten besessen, einige Vertreter der Aristokratie sogar ihre
Strandvillen, aber der allgemeine Exodus während der Hundstage begann erst
in der Meiji-Periode, unter der Regierung des verstorbenen Kaisers Mutsuhito.
Im Jahre 1876 wies der Generalinspektor des Sanitätswesens der Armee
Dr. Jun Matsumoto darauf hin, daß auf das Baden in der See während der heißen
Jahreszeit mehr Gewicht gelegt werden müßte. Der Rat wurde von der besseren
Klasse beherzigt und der in der Nähe von Yokohama gelegene Strandort Oiso
in ein den damaligen Anforderungen entsprechendes Seebad umgewandelt. Heute
ist Oiso das „japanische Coney Island“. Jung und alt, arm und reich zieht es nach
dem Ort, der auch insofern eine politische Bedeutung erlangt hat, als in Oiso
oft über das Wohl und Wehe eines Ministeriums entschieden wird.
Wie immer, wenn ein Anfang gemacht worden ist, entstand bald ein Seebad
nach dem andern. Heute
haben einzelne Seebäder
eine Besucherzahl von
50 000 Personen zu ver-
zeichnen. Nimmt man
Tokio oder Yokohama
als Ausgangspunkt, so
teilt man die japanischen
Seebäder am besten nach
den verschiedenen Eisen-
bahnlinien ein. Die
Hauptlinie, die,,Tokaido-
Bahn“, führt nach dem
reizenden, durch seine
Buddha-Statue bekann-
ten Kamakura, das einst
die Hauptstadt des öst-
lichen J apans war, ferner
nach dem nur wenige
Meilen entfernten Zushi,
wo sich eine Villa des
jetzigen Kaisers befindet,
weiter nach dem bereits
genannten Oiso, nach
Okitsu an der herrlichen
Surugabai, dann nach
dem romantischen Ben-
ten-Jima, dessen Strand
sich ausgezeichnet zum

Wasserfall bei Yumoto.

Am Chuzenji-See.

[Nachdruck verboten.]
Golfspiel eignet, und schließlich nach Kamagori, in dessen Umgebung sich der
Tempel der „Venus von Japan“, Benten, befindet.
An der Sobu-Bahn sind das einen schönen Blick auf die Tokiobai gewährende
Inage mit dem Badeetablissement Kaiki-kwan sowie der sogenannte „99 Ri-
Strand“ Ku-ju-ku-ri und das an der Mündung des Tonegawaflusses gelegene
felsenreiche Choshi bemerkenswert. Letzteres wegen seines Fischreichtums und der
in dem Ort fabrizierten japanischen Sauce
„Higeta Shoyu", die auch niemals auf
der kaiserlichen Tafel fehlt. In unmittel-
barer Nähe befindet sich noch das eben-
falls vielbesuchte Seebad Kap Inuboe
(„das bellende Hundekap“).
An der Boso-Bahn kommt die alte
Feudalstadt Ichinomiya mit dem pracht-
vollen Blick auf den Pazifikozean in Be-
tracht; ferner Taito, Ohara und Katsuura,
wo die Fischer durch ihre eigenartigen,
mit allerlei Emblemen bedruckten Ko-
stüme auffallen.
Endlich die Joban-Bahn, die nach
dem „Oiso der Joban-Linie" Sukegawa
mit seiner hübschen Fichtenallee und
nach Isohara führt.
Außer diesen Seebädern sind noch
die entzückende Halbinsel Enoschima
sowie die Plätze Kugenuma, Odawara,
Chigasaki, Ivozu, Numazu und Juzukawa
beliebte Badeorte. Die Glücklichen in
Kyoto, Osaka und Kobe, die sich eine
Badereise leisten können, suchen gewöhnlich Hamadera, Suma, Maiko, Akashi
und den von den japanischen Dichtern so oft besungenen schmalen sandigen
Landstreifen Waka-no-ura auf.
Jamate no Akahito, der zur Zeit des Kaisers Shonu (724—748) lebte und
dichtete, sagt von Waka-no-ura:
„Wenn die Flut drängt heran,
An die Küste von Waka,
Fliegen die Störche weinend davon,
Dem Schilf entgegen
Weil nirgends ein trockenes Plätzchen.“
Das Tagewerk der japanischen Badegäste entspricht nicht unserem Strand-
leben. Der Durchschnittssommergast erhebt sich zwischen fünf und sechs Uhr
morgens. Nach dem Frühstück beschäftigt er sich mit Musizieren, Singen oder
dem Gospiel. Manche machen sich auch über die alten japanischen und chinesischen
Klassiker her oder ergehen sich in „Zazen“. Stundenlang sitzt der Betreffende
im tiefen Nachsinnen da
und denkt über eine ihm
von einem buddhisti-
schen Priester gestellte
Frage nach. Dieses Nach-
sinnen ist eine Art japa-
nischer Sport und wird
von den Japanern so
emsig betrieben wie bei
uns Tennis, Golf oder
dergleichen. Die Bade-
gäste in Kamakura be-
geben sich gewöhnlich in
den Kenchoji oder in den
Engakuji- und Jochiji-
Tempel, wo sie sich dem
„Zazen“ widmen.
Nach dem Mittag-
essen verbringt der Ja-
paner an der Küste eine
Zeitlang im Kreise seiner
Familie, dann hält er
sein Mittagsschläfchen,
und nun wird erst das
tägliche Seebad genom-
men. Nach Hause zu-
rückgekehrt, folgt ein
Süßwasserbad, diesem
das Abendessen und das

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