Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI Heft:
25. Heft
DOI Artikel:
Dorret, M.: Ich lasse dich nicht, [4]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0752

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

MODERNE KUNST.

Gleich darauf will sich’s auch schon wie ein leises Hoffen regen, und
er denkt: leben, weiter leben! ....
Erbärmlich kommt er sich vor. Und als wolle er diese kleine feige
Hoffnung, diesen beschämenden Lebenshunger gleich im Keim ersticken,
sagt er sich: sie ahnt gar nicht, was sie da auf sich nehmen will. Kann es
gar nicht übersehen. Oder es sind nur hohe Worte, die ein Neues, Heißes
verbergen sollen ....
Weiber, Weiber ....
Aber wie er nun in das weiße stille Gesicht sieht, in die Augen, in denen
alles Leben liegt, fühlt er plötzlich: sie ahnt nicht nur. Sie weiß es.
Übersieht mit einer beinahe hellseherischen Schärfe, emporgewachsen aus
der Not der Stunde, was ihrer wartet.
Das erschütterte ihn, wühlte auf. Ganz überwältigt stand er vor
neuen, nie geahnten Möglichkeiten, fühlte eine Wesenheit, die ihm unfaßlich

Aber es war damals, als für ihn nur kleine süße und heiße Weiberchen
da waren .... damals, als er noch nicht wußte, daß es Frauen gibt, ganz
reine, stille, gütige ....
Zum ersten Male in seinem Leben suchte Harry Tennow nach Worten
und sagte dann ganz unbeherrscht und mühsam:
„Margret, was du tun willst, kann ich nicht annehmen. Wenn ich auch
nur eine Spur von Selbstachtung wieder bekommen soll. Denn das ist ein
unerhörtes Opfer."
„Das ist Liebe“, sagt das Mädchen einfach. Und ganz leise fügt sic
hinzu: die so stark ist, daß sie für beide reicht, Ruhe bringt und Sonne —
vielleicht auch einmal. Dafür lohnt es sich schon zu leben. Mehr will ich
nicht. Das ist mein heiliges Versprechen. Also kommst du nun?"
Er antwortete nicht. Als sehe er das Mädchen jetzt zum ersten Male,
so unverwandt starrt er es an. Das alles ist ja so unmöglich, so unerhört,

scheinen wollte: solche Frauen gab es also .... solche jungen Frauen-
seelen ....
Solch ein feiner, mutiger Mensch war das scheue „Exzellenzengör“. Und
daran war man jahrelang vorübergegangen, er ... . und die anderen alle.
Er entsann sich mit einem Male, wie oft sie über die „Eisjungfrau“ gelacht.
Und ganz flüchtig fiel ihm die kleine Szene ein, im Rauchzimmer des Kasinos
nach einem Ball. Sie lümmelten da alle ein wenig erhitzt von den starken
„Bool’s Mischungen", auf die er sich meisterhaft verstand, in den tiefen
Lederstühlen und sprachen ein wenig frivol und ein wenig blasiert von den
Damen, mit denen sie heute getanzt. Ganz kurz, mit einem halben Gähnen,
wollte man auch die „Eisjungfrau“ abtun. Aber er hatte, schon in Ge-
danken in seinen sehr warmen vier Wänden, ungeduldig das Gespräch nun
möglichst rasch zu beenden, achselzuckend hingeworfen: „Na, sehr schwierig
wird ihr der Eisreichtum nicht zu ertragen sein. Anfechtungen von unser-
einem ist sie ja wohl kaum ausgesetzt.“ Er hört wieder das Lachen der
anderen, und es ist ihm in diesem Augenblick, als hätte er damals ein Sakrileg
begangen. Ja, so empfindet er das nun.

muß doch nun ein Ende nehmen. Aber dann — und das ist nun wieder so
ganz der heiße Augenblicksmensch Harry Tennow — kommt ein toller,
stürmender Jubel über ihn: leben . . . . un ge hetzt das schöne, reiche und
weite Leben genießen.
Eine große Dankbarkeit ist in ihm. Und er, der eben noch all das von
sich werfen wollte, abtun mit einem verächtlichen Achselzucken, hat nur
noch den einen erschütternden Gedanken: ein vollwertiger Mensch wieder
zu werden, in Ruhe und Schönheit alles auskosten .... Er will dem Mädchen
das sagen, irgend etwas überströmend Herzliches .... Aber er hat — ganz
unbestimmt — das Empfinden, daß jedes Wort in dieser Stunde banal würde,
sinnlos .... Und er ist auch gar nicht Herr seiner Stimme. Er beugt sich
nur sehr tief über ihre schlaff herabhängende Hand: „Ja, Margret, ich komme".
Einen Augenblick ist’s, als breche das Mädchen zusammen. Aber dann
richtet sie sich straff auf mit derselben Bewegung, die ihrem Vater eignet.
Und festen Fußes, ohne ein einziges zögerndes Tasten, geht Margret
Kerstens an der Seite des Mannes von der warmen strömenden Helle in die
kalte und unsichere Dunkelheit hinein. (ENDE.)

Kleine Scheidegg mit der Jungfraukette.

Phot. Nikles, Interlaken.

XXVIII. 80.
 
Annotationen