nie außer acht lassen, daß die Gotik zeitlich eine Folge
der oon Cluny ausgehenden Reform der abendländischen
Christenheit war, daß sie die erste wirkliche Besitzergrci-
fung der christlichen Jdee bedeutete und eine geistige
Macht darstellte, die über allen Baumcistern und asthe-
tischen Programmen war. Die Einordnung der Künste
geschah aus dem Gcist dieser Jdee, ivar also mehr als
das Ergebnis irgendeiner stilistischen Disziplin, darin
der Baumeister den Kommandostab führte. Jndem der
Maler und Bildhauer wie der Baumeister sein Höchstes
cinsetzte, kam er gewissermaßen von selber in die Kathe-
drale, und die Größe derAeit in ihrem Stil ist mehr diese
lückenlose Vollständigkeit als das Genie irgendeines
Baumeisters, weshalb es auch imnwr wie eine moderne
Einmischung aussieht, wenn wir nach den Namen der
Baumeister suchen.
Die Hauptfrage jedes Denkenden vor der modernen
Kunst steht darunc so: wird auch ihr die Zeit kommen,
wo sie ahnlicherweise von der
Gemcinsamkeit einer Jdee erfüllt
ist? Bis zum Ausbruch dieses
Krieges würden wohl nrir we-
nige den Mut gehabt haben, sie
zu bejahen; und auch heute ge-
hört angesichts des Eifers, mit
dem gerade an der modernen
Kunst Krankheitszeichen des deut-
schen Geistes gefunden werden,
ein glaubiger Mut zu der Be-
jahung. Wenn man dem Gezeter
glauben wollte, wie es nun schon
seit Jahrzehnten ziemlich gegen
jede Bewegung der moderncn
Kunst erhoben wurde, sollte man
mcinen, die Aeit der Kaulbach
und Piloty, Knaus und Vautier
wäre dic hohe Aeit der deutschen
Kunst gewesen und seitdem sei
es mit dem Jdealismus und
ihrem Können bergab gegangen;
wahrend es doch kaum geleugnet
werden kann, daß diese Aeit eine
Annäherung der Kunstübung an
den landläufigsten Geschmack be-
deutet, wie wir sie sonst nur aus
Aeiten des Niedergangs kennen.
Kunst ist Aufschwung, ist Er-
hebung über den Alltag, Auf-
rüttelung der allgemeinen An-
schauung, ist Religion, die nun
einmal — daß man sich darüber
nie klar werden will — mit
bürgerlichem Behagcn nichts zu
tun hat und die der Todfeind
jeder Selbstzufriedenheit ist.
Erst als der Versuch der Ro-
mantiker, die religiöse Jdee der
Kunst noch einmal in den For-
men und Gewändern der Ver-
gangenheit zu finden, bis zu den
schwächlichen und süßlichen Wer-
Wilhelm Lchmbruck.
ken der letzten Nazarener entartet war, konnte jencr
Verfall der künstlerischen Gesinnung eintreten, als wel-
chen wir die letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahr-
hunderts in Dcutschland leider ansehen müssen, wo
die Jdealisten nicht im, sondern gegen den öffent-
lichen Sinn des Volkes lebten — und litten. Es
nmßte uns erst die harte Lehre gegeben werden, daß
wir auch das Brot der Kunst nur ini Schweiße des Ange-
sichts essen können und daß die Vorstellung des Künstlers
als Götter- und Menschenliebling immcrhin eine leicht-
sinnige Vorstcllung sei. Die Besitzergrcifung Böcklins
durch dcn deutschcn Geist ivar die Wasserschcide dcr künst-
lerischen und bürgerlichen Gesinnung; hinter ihm tauchte
die Prometheus-Natur Maroes auf und in der Berlincr
Jahrhundert-Ausstellung erhielt das deutsche Volk einen
Anschauungsunterricht, daß es zum mindesten nicht seine
Lieblinge gewesen waren, die der deutschen Kunst ini
neunzehnten Jahrhundert die Haltung bewahrten.
Dem Laien wird es freilich
letzten Grundes immer eine
zweifelhafte Sache blciben, daß
die cinsame Beharrung der an-
deren Künstler etivas mit der
religiösen Jdee zu tun haben
soll; er wird eher Eigensinn und
Verbohrtheit, bestenfalls charak-
tervolle Treue gegen das Hand-
werk darin sehen: aber gerade
in dicser Treue haben auch brei-
tere Kreise den Anfang einer
neuen deutschen Glaubenskraft
in der Kunst erkennen müssen,
als die sogenannte kunstgewerb-
liche Bewegung eine Erneucrung
unserer baukünstlcrischen Gesin-
nung auslöste. Daß solidere
Tische und Stühle gemacht wur-
den, war nicht der Sinn dieser
Bewegung, sondern daß es ein
unwürdiges Dasein wäre, in
einem Plunder zu leben und daü
Jdeal der Schönheit gewisser-
maßen nur theoretisch in der
Bildung zu haben; daß, wenn
Wahrheit und Ordnung die
Grundlagen des menschlichcn
Daseins waren, sie in unserer
Alltäglichkeit nicht entbehrt wer-
den könnten. Es war cin sitt-
licher Aufschwung, aus dem die
Erneuerung geschah, und wenn
wir nach Vorboten des herrlichen
Aufschwungs suchen, den unser
deutsches Volk im Kriegsaus-
bruch erlebte, wcrden wir keinen
besseren und stärkeren finden, als
eben dicse sittlicheErneuerung un-
serer „Wohnkunst", in der sich
zum erstenmal wieder das deut-
sche Wesen vor der ganzen Wclt
dartat.
Wilhclm Lehmbruck. Sinnendes junges Mädchen
(Torso, Lebensgröße, Bronze).
der oon Cluny ausgehenden Reform der abendländischen
Christenheit war, daß sie die erste wirkliche Besitzergrci-
fung der christlichen Jdee bedeutete und eine geistige
Macht darstellte, die über allen Baumcistern und asthe-
tischen Programmen war. Die Einordnung der Künste
geschah aus dem Gcist dieser Jdee, ivar also mehr als
das Ergebnis irgendeiner stilistischen Disziplin, darin
der Baumeister den Kommandostab führte. Jndem der
Maler und Bildhauer wie der Baumeister sein Höchstes
cinsetzte, kam er gewissermaßen von selber in die Kathe-
drale, und die Größe derAeit in ihrem Stil ist mehr diese
lückenlose Vollständigkeit als das Genie irgendeines
Baumeisters, weshalb es auch imnwr wie eine moderne
Einmischung aussieht, wenn wir nach den Namen der
Baumeister suchen.
Die Hauptfrage jedes Denkenden vor der modernen
Kunst steht darunc so: wird auch ihr die Zeit kommen,
wo sie ahnlicherweise von der
Gemcinsamkeit einer Jdee erfüllt
ist? Bis zum Ausbruch dieses
Krieges würden wohl nrir we-
nige den Mut gehabt haben, sie
zu bejahen; und auch heute ge-
hört angesichts des Eifers, mit
dem gerade an der modernen
Kunst Krankheitszeichen des deut-
schen Geistes gefunden werden,
ein glaubiger Mut zu der Be-
jahung. Wenn man dem Gezeter
glauben wollte, wie es nun schon
seit Jahrzehnten ziemlich gegen
jede Bewegung der moderncn
Kunst erhoben wurde, sollte man
mcinen, die Aeit der Kaulbach
und Piloty, Knaus und Vautier
wäre dic hohe Aeit der deutschen
Kunst gewesen und seitdem sei
es mit dem Jdealismus und
ihrem Können bergab gegangen;
wahrend es doch kaum geleugnet
werden kann, daß diese Aeit eine
Annäherung der Kunstübung an
den landläufigsten Geschmack be-
deutet, wie wir sie sonst nur aus
Aeiten des Niedergangs kennen.
Kunst ist Aufschwung, ist Er-
hebung über den Alltag, Auf-
rüttelung der allgemeinen An-
schauung, ist Religion, die nun
einmal — daß man sich darüber
nie klar werden will — mit
bürgerlichem Behagcn nichts zu
tun hat und die der Todfeind
jeder Selbstzufriedenheit ist.
Erst als der Versuch der Ro-
mantiker, die religiöse Jdee der
Kunst noch einmal in den For-
men und Gewändern der Ver-
gangenheit zu finden, bis zu den
schwächlichen und süßlichen Wer-
Wilhelm Lchmbruck.
ken der letzten Nazarener entartet war, konnte jencr
Verfall der künstlerischen Gesinnung eintreten, als wel-
chen wir die letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahr-
hunderts in Dcutschland leider ansehen müssen, wo
die Jdealisten nicht im, sondern gegen den öffent-
lichen Sinn des Volkes lebten — und litten. Es
nmßte uns erst die harte Lehre gegeben werden, daß
wir auch das Brot der Kunst nur ini Schweiße des Ange-
sichts essen können und daß die Vorstellung des Künstlers
als Götter- und Menschenliebling immcrhin eine leicht-
sinnige Vorstcllung sei. Die Besitzergrcifung Böcklins
durch dcn deutschcn Geist ivar die Wasserschcide dcr künst-
lerischen und bürgerlichen Gesinnung; hinter ihm tauchte
die Prometheus-Natur Maroes auf und in der Berlincr
Jahrhundert-Ausstellung erhielt das deutsche Volk einen
Anschauungsunterricht, daß es zum mindesten nicht seine
Lieblinge gewesen waren, die der deutschen Kunst ini
neunzehnten Jahrhundert die Haltung bewahrten.
Dem Laien wird es freilich
letzten Grundes immer eine
zweifelhafte Sache blciben, daß
die cinsame Beharrung der an-
deren Künstler etivas mit der
religiösen Jdee zu tun haben
soll; er wird eher Eigensinn und
Verbohrtheit, bestenfalls charak-
tervolle Treue gegen das Hand-
werk darin sehen: aber gerade
in dicser Treue haben auch brei-
tere Kreise den Anfang einer
neuen deutschen Glaubenskraft
in der Kunst erkennen müssen,
als die sogenannte kunstgewerb-
liche Bewegung eine Erneucrung
unserer baukünstlcrischen Gesin-
nung auslöste. Daß solidere
Tische und Stühle gemacht wur-
den, war nicht der Sinn dieser
Bewegung, sondern daß es ein
unwürdiges Dasein wäre, in
einem Plunder zu leben und daü
Jdeal der Schönheit gewisser-
maßen nur theoretisch in der
Bildung zu haben; daß, wenn
Wahrheit und Ordnung die
Grundlagen des menschlichcn
Daseins waren, sie in unserer
Alltäglichkeit nicht entbehrt wer-
den könnten. Es war cin sitt-
licher Aufschwung, aus dem die
Erneuerung geschah, und wenn
wir nach Vorboten des herrlichen
Aufschwungs suchen, den unser
deutsches Volk im Kriegsaus-
bruch erlebte, wcrden wir keinen
besseren und stärkeren finden, als
eben dicse sittlicheErneuerung un-
serer „Wohnkunst", in der sich
zum erstenmal wieder das deut-
sche Wesen vor der ganzen Wclt
dartat.
Wilhclm Lehmbruck. Sinnendes junges Mädchen
(Torso, Lebensgröße, Bronze).