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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 9.1918-1919

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Zehntes Heft (Januar 1918)
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Hoeber, Fritz: Das Erlebnis der Zeit und die Willensfreiheit, [2]: Die intuitive Philosophie von Henri Bergson
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https://doi.org/10.11588/diglit.37111#0141

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geben. Ihr kommt es vielmehr darauf an, das wirkliche
Leben in seiner unzerteilbaren schöpferischen Einheit, in
seinem unendlichen Entwicklungsreichtum in vertiefter Intuition
zu erfassen. Die Einzelwissenschaft erscheint der Bergsonschen
Philisophie gegenüber nur als subordinierte Technik,- die ihren
praktichen einzelwissenschaftlichen, sicher ganz nützlichen
Zwecken und Resultaten meinetwegen auch auf ihre Weise
nachgehen mag, selbst, falls sie dies etwa lür nötig erachtet, mit
den unlautern Mitteln der Quantifi'kation und der Verräum-
lichung. Nur soll sich eine solche wissenschaftliche T e chnik
dann nicht einbilden, Wissenschaft im höhern Sinn,
Erkenntnis des wirklich Seienden, zu sein.
Trotzdem gewährt Bergsons Philosophie auch einen spezial-
wissenschaftlichen Gewinn: Die Gruppe der Kulturwissen-
schaften, wie nach Heinrich Rickerts Vorgang die soge-
nannten Geisteswissenschaften jetzt richtiger bezeichnet, die
Geschichte vorallem, hatte unter dem wachsenden Einfluß der
sich allein als wissenschaftlich betrachtenden Naturwissenschaft
nachgerade angefangen, ebenfalls räumlich zu abstrahieren und
quantitativ zu schematisieren. Wie eine Erlösung kam da für
sie Bergsons Auffassung der Zeit, des inneren Erlebnisses der
duree concrete:' Die Geschichte, die Kulturwissenschaften, die
Geisteswissenschafteü, erschienen nun mit ihrem Bestreben,
die intensive Erinnerung, das Kontinuum des menschlichen Be-
wußtseins, die lebendigen Vorgänge der Seele darzustellen, als
eine viel wirklichere und konkretere Wissenschaft als alle blos
abstrahierende und äußerlich zählende Physik. — Damit er-
öffnet sich aber ein neuer Weg für alle individualisierende For-
schung, für alle Wissenschaft vom menschlich Seienden: Als
deutliche Parallele zu der Renaissance der historischen Diszi-
plinen treten hier vor allem die neuen ,,naturrechtlichen" Be-
strebungen in der Jurisprudenz auf, die sich an die Namen des
Freiburger Professors Hermann Kantorowicz (Gnaeus Fla-
vius: Der Kampf um die Rechtswissenschaft. Heidelberg 1906)
und des Karlsruher Rechtsanwalts Ernst Fuchs anknüpfen:
sie wollen den individuellen Rechtsfall nicht mehr nach dem
Vorgang des Reichsgerichts in gesetzlicher Abstraktion typisch
konstruieren, sondern ihn als ein lebendes Ganze aus der ge-
gebenen Fülle seines menschlichen, sozialen, wirtschaftlichen
Bedingungskomplexes heraus verstehen. Aus solch konkreter
Anschauung heraus wird auch das entscheidende Urteil intuitiv
geschöpft. In absoluter Heterogeneität wird es als etwas ganz
Neues, durch keine Paragraphenmathematik Bedingtes einzig
nach den Umständen einer tiefen Lebenserfahrung indivi-
dualisiert, produktiv gestaltet.
Die Naturrechtslehre kann sich dabei direkt auf Bergson be-
rufen, der sagt: ,,Das deduktive Urteilsvermögen ist viel zu
schwerfällig, um sich der leichten Beweglichkeit des Lebens an-
zupassen." — Welch ein Gegensatz wieder zu dem Genie des
Rationalismus, zu Kant, der zwar ebenfalls die Einzelgesetze,
die juristischen Individualschemata, abschaffen möchte, aber
ganz im Gegenteil alles in der Rechtsprechung von einer De-
duktion aus Prinzipien erhofft: ,,Es ist ein alter
Wunsch, der, wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung
gehen wird, daß man doch einmal, statt der endlosen Mannig-
faltigkeit bürgerlicher Gesetze, ihre Prinzipien aufsuchen
möge; denn darin kann, allein das Geheimnis bestehen, die Ge-
setzgebung, wie man sagt, zu komplifizieren." (Kritik der reinen
Vernunft. Iransscendentale Dialektik: II, Von der reinen Ver-
nunft als dem Sitze des transscendentalen Scheins.)
Wie in der Rechtswissenschaft, so sucht auch in der ihr ver-
wandten f, t h i k , der Moralwissenschaft, die Bergsonsche Phi-
losophie die konstruktive Unlebendigkeit der Gesetze, sitt-
lichen Prinzipien, fordernden und verbietenden Gebote oder
kategorischen Imperative zu vermeiden und sich auf die dem
Leben selbst mne wohnenden, schöpferischen ethischen Impulse
zu konzentrieren. — Ernest Seilliere legt in der Inter-
nationalen Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik"
}c. Jahrgang, 2, November 1913) die Grundelemente dieser
Bergsonschen Mmralphilosophie dar: Sie wird wesentlich auf
dem menschlichen Dualismus der Sympathie, des Gerech-
tigkeitsgefühls, und des Willens zurMacht als Wurzel des

tätigen Lebens, als des Trägers des kulturellen Fortschritts auf-
gebaut, Der Egoismus des Einzelnen wird durch die vitalisti-
sche Ueberlegung gebändigt, daß das Leben nicht in ihm sein
Ziel findet, sondern vielmehr durch ihn hindurchgeht. Bergson
stellt die Forderung einer größtmöglichen Soziabilir
tä t auf, einer Anpassung des Individualtriebs an die Gegeben-
heiten der Gesellschaft, von der doch jedermann ein Glied dar-
stellt, vermittels des ,,bon sens". Dieser ,,bon sens" kann als
Regulativ wirken gegenüber der Routine der gesellschaft-
lichen Steifheit, die alle persönliche Willensregung unterdrückt,
und gegenüber dem T r u g b i 1 d eines isolierenden Solipsismus,
der im Ezcentrischen ausartet. Im Sinn der sozialen Konzen-
trität wirkt der bon sens als originales persönliches Element er-
gänzend zu dem Geist des Fortschritts. Wie dieser bon sens
dann auch noch in den Einzelheiten des gesellschaftlichen Le-
bens tätig ist, das hat Bergson in seiner höchst anziehenden
Studie über das Lachen (Essai sur la signification du comi-
que) geschildert, wo als seine Funktion die größtmögliche so-
ziale Vereinbarkeit der Charaktere durch das harmlose gesell-
schaftliche Strafmittel der Lächerlichkeit dargelegt wird. —
Nach allem diesen erscheint es selbstverständlich, daß auch die
moderne Aesthetik und Kunstwissenschaft bereits den Einfluß
der Bergsonschen intuitiven Philosophie erfahren muß: Wenn
irgendwo, so hat gerade hier die Intuition, die anschauliche
Erfahrung der lebendigen Bewußtseinsvorgänge selbst, Berech-
tigung. Und so sieht man denn immer mehr, wie die normative
Aesthetik, mit ihren Forderungen a priori, ihrer psychologisti-
schen Aufstellung absoluter Schönheitsnormen, ihren Gesetzen
räumlichen Charakters, einer der Kunst mehr verwand-
ten Betrachtungsweise weichen muß, die die Kunstge-
schichte, die Summation aller Erfahrungen des künstleri-
schen Bewußtseins, als einzige und allein dem Wesen des Kunst-
wertes entsprechende, qualitative Würdigung an Stelle
jener quantifizierenden Regelwissenschaft rückt. — Sogar auf
Teilgebiete der Naturwissenschaft, auf Biologie und praktische
Medizin, scheint dieser Geist einer durchgängigen Individuali-
sierung überzugreifen. So sucht man etwa anstatt der durch
äußere Namenkategorien bestimmten Krankheitsbilder indi-
viduellere Vorstellungen einzuführen, die den
schöpferischen Naturvorgang in seiner einzigartigen kausalen
und elementaren Verknüpfung, nur entfernt vergleich-
bar mit andern Individualerscheinungen derselben Gattung,
bestimmen und danach die Behandlung der einen Krankheit
jedesmal verschiedenartig zu gestalten.
Dennoch liegt die Bedeutung und die Entwicklungsmöglichkeit
der Bergsonschen Philosophie natürlich weit weniger auf dem
Gebiet der Naturwissenschaft, zu der sie sich ja, zum minde-
sten in ihrer heute geübten Methode, in einem selbstgewollten,
fundamentalen Gegensatz gestellt hat, als auf dem Gebiete der
Kulturwissenschaft, der Geschichte im weitesten
Sinne: In der individualisierenden Einführung, dem gleich-
sam künstlerischen, kongenialen Nacherleben d^r großartigen
schöpferischen Entwicklung des i ealen Sems hat
gerade diese Wissenschaft von den m.ens'-.h'b.-ben'Bewußtscins-
vorgängen, die schildernde Kulturwissenschaft, ihre autonome
Aufgabe und zugleich deren e Monome Losung neu gefunden. —
Es ist der zukunftsschaffende nnpuls des Gebens, jener vor-
wärtstreibende elan vital, den die in d m duree concred ur-
zelnde Geschichte synthetisch mitzuerleben vermag, wo die
Analyse der mathematischen Naturwissenschaft nur eine räum-
lich ausgedehnte Materie und das verdorrte Schema der Zahl
erblickt: Einzig die schöpferische Intuition, durch keines Ge-
dankens Blässe angekränkelt, ist im Stand, das wirkliche
Leben in seinem unermeßlichen Reichtum kongenial zu er-
fassen, will sagen, mitzü erleben.
Die Werke Henri Bergsons sind: 1. Zeit und Freiheit / Eine Abhandlung
über die 'unmittelbaren Bewußtseinstatsachen. 2. Schöpferische Entwick-
lung. 3. Materie und Gedächtnis / Essays zur Beziehung zwischen Körper
und Geist. 4. Einführung in die Metaphysik. 5. Das Lachen / Essay über
die Definition des Komischen. — Die französischen Originale sind bei Feiix
Alcan ^ Paris 108, Boulevard Saint-Germain, erschienen, deutsche Ueber-
setzungen, mit Ausnahme von 5, bei Eugen Diederichs in Jena.

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