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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 11.1913

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Heft 1
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Barlach, Ernst: Eine Steppenfahrt
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https://doi.org/10.11588/diglit.4713#0015

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recht aus dem Vollen geschöpft, entworfen und ge-
staltet ohne Furcht vor den ausschweifendsten For-
derungen des Stils, rücksichtslos in der Lust der
flachen Bogen, auslassend das Verlangen tischflacher
Flächen nach der Ferne, ausbrechend in Zügen
grauer, am Himmelsrande hinschiessender Riesen-
waale, die im Wahn durchschimmernder Freiheit
am harten Kristall des Horizonts entlang rasen.
Man steht auf der Höhe einer flachen Aufbäumung
der Erde, inmitten eines Vorgangs von zweierlei
Grenzenlosigkeiten; der einer auf die Ewigkeit
eingerichteten Ruhe und der Grenzenlosigkeit des
monumentalsten Dranges zur Entfaltung dumpfer
Gestaltungslust.

Die Steppe, wie sie so hingebreitet daliegt,
träumt sich unendliche Befriedigungen; alles ziel-
lose und so köstlich traumhafte Formen vollzieht
sich in gemächlicher Folge, im Aneinanderschliessen
mächtigen und doch lieblichen Geschehens. Das
Bizarre selbst hebt sich mit der allgemeinen Gross-
stimmigkeit und Ruheseligkeit zur Höhe majestä-
tischer Laune. Das Liebliche weitet sich zur milden
Herrlichkeit und das Gewöhnliche, getränkt mit
Glückseligkeit und Traumverklärung, ist gesättigt
mit dem Glanz des Wunderbaren. Und das alles
unter dem Schleier derBlassfarbigkeit, dessen weiche
Töne in der Breite von Fürstentümern sich an-
einander schmiegen und miteinander mischen.

Und dann, wenn beim Morgenwinde der
graue Wolkenhimmel erst leise wallt und nun
an einer Stelle durchbrochen wird, wenn die
Flächen vom Ziehen unsichtbarer Fäden an-
fangen zu streichen und sich zu falten, wenn
hier und da die dünngezerrte Wolkendecke
reisst und den Windhänden Gelegenheit schafft,
blaue Löcher und lange Risse ins Gewebe zu
bringen, dann liegt bald die erste Sonnen-
breite auf-der Erde, vereinigt sich mit einer
zweiten und dritten und zieht sich über ganze
Achtel und Viertel der sichtbaren Erde. Die
blassfarbigen Fürstentümer erglühen und die
Schatten huschen und fliehen und vergehen
vor dem Drängen des Lichts. Es hetzen sich
miteinander Wachen und Träumen. Dann hebt
in der Steppe von unten her ein Verwundern
an; ein Wünschen und Höften ist von oben
zum Glühen gebracht, ein Lechzen atmet aus
der Brust eines ganzen Gebiets, dessen Seele
im Sonnenkuss bewusst geworden. Das Träu-
men ist mit einem Schlage unterbrochen, auf
allen sanften Bogen und geschwellten Flächen
liegt es wie eine furchtbare Last, die zu heben
die Rücken der Fürstentümer sich wölben müssen,
unter deren Wuchten der gemurmelte Fluch des
Seufzens hervorsickert wie leises Wasserfliessen.
Eine Zusammenstimmung gepressten Hauchens in ein
gemeinsames todtrauriges Schweigen. Das hebt
sich auf, wie ein ungeheuerer schwerer Vogel mit
weichen Flügeln, deren Breite die ganze Steppe von
Horizont zu Horizont umspannt, deren Federn, wie
er mit unendlicher Langsamkeit fliegt, nur Geistes-
ohren hörbar ein tiefgestimmtes Stöhnen entfährt.
Er kreist ununterbrochen und überwallt mit Leid-
stimmung die Steppe überall.

Auf den höchsten Anhöhen ringsum, überall
wo eine Erhebung über die allgemeine Linie hin-
überschwillt, hocken kleinere Hügelchen, wie die
Jungen der Alten. Vom Kreideberge nach der lang-
sam ebbenden, mit der allgemeinen Höhe zusammen-
fliessenden Flanke gesehen, mögen es im Bereiche
unsrer Augen ein halbes Dutzend sein, und wir
selbst, wie wir herauf gelangt sind, sind auf
ein solches Extrahügelchen getreten, denn diese
wenigen Meter bedeuten die letzte Stiege zur
Plattform eines Aussichtspunktes, den man nimmt,
weil Einen der Ferngeiz schon die wenigen Schritte
Abschussfläche als Störung, als unschicklich nahen
Vordergrund im Bild der Ferne empfinden lässt.
Wir stehen auf einem sogenannten Tartarenhügel.



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