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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Dessoir, Max: Eröffnungsrede: erste allgemeine Sitzung, 7. Oktober, vormittags 9 1/2 Uhr
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0058

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Eine Übersicht über die gegenständlich gerichteten Arbeiten der
Philologie führt gleichfalls zu einem unerfreulichen Ergebnis. In den
meisten Schriften, die sich mit Form- und Stilfragen beschäftigen, herrscht
ein rationalistischer Atomismus. Da will jemand die formale Schönheit der
Bibel an den Bildern und Vergleichen darstellen. Wie geht er vor? Er
zählt die verwendeten Tiere auf, fängt mit dem Rindvieh an und endet bei
Floh und Schnecke. Ein Goethe-Philolog prüft die Hyperbeln im „Götz“,
und zwar ,,a) Himmel und Hölle, b) Große Zahlen, c) Sonstige Hyperbeln“
— eine Methode von unüberbietbarer Äußerlichkeit und Unfruchtbarkeit.
Denn so gewiß die Dichtkunst aus ihrem Wirkungsmittel, der Sprache,
verstanden werden muß, so gewiß muß zuallererst der Gesamtton des
Ganzen, die dichterisch-sprachliche Kraft als solche erfaßt werden. Es
ist ärgerlichste Schubfach-Ästhetik, wenn man Untersuchungen darüber
anstellt, ob der Dichter „Vergangenes oder Zeitloses oder Zukünftiges
vorführt“, wenn die Poetik Sätze wagt wie: „Das Verbum ist poetischer als
das Nomen, das Nomen poetischer als das Pronomen.“ Ich bekenne frei-
mütig, daß mir eine solche Auffassung kunstwidrig und demnach kunst-
wissenschaftlich wertlos erscheint.
Doch darf die irrige Meinung nicht aufkommen, als wende sich die
hier vertretene Richtung gegen gute und getreue Philologie. Wir schätzen
ihre Fähigkeit, die Fremdheit des Alten zu beseitigen, die Kunstformen
und den geistigen Ertrag einer Literatur aus den Hüllen zu lösen; wir
würdigen das Kunstgefühl, das in der schweigsamen Arbeit der Text-
reinigung verborgen sein kann. Niemand unter uns wird Männern wie
Lachmann und Müllenhoff seine Bewunderung weigern; um so weniger,
als ihr Versuch, durch höhere Kritik das allmähliche Werden literarischer
Gebilde zu ermitteln, von der Sache selbst ausging. Indem Lachmann an
der Ilias Unstimmigkeiten der Erzählung, Stil- und Wertverschiedenheiten
und besonders einen wunderlichen Wechsel in Ton und Farbe der Dar-
stellung nachwies, unterzog er das Werk einer wahrhaft ästhetischen
Betrachtung und Reinigung. Leider jedoch waren Lachmanns wie Müllen-
hoffs ästhetische Oberbegriffe unzulänglich. Ihre Sammeltheorie, ihre
Meinung von „zusammengezogenen“, „geordneten“, „dichterisch über-
arbeiteten“ Einzelliedern, mußte als mechanistisch aufgegeben werden.
Die neuere Forschung ruht auf einer besseren Erkenntnis vom Wesen des
Liedes, nicht des konstruierten, sondern des in der geschichtlichen Wirkung
beobachtbaren Heldenliedes; sie zeigt, daß durch Aneinanderreihen
solcher in sich vollkommen gerundeter Gebilde der in ganz andern
Strukturverhältnissen angelegte epische Leib überhaupt nicht entstehen
kann. Als Gegenschlag gegen mechanistische Auffassungsweise einerseits,
rationalistische Denkungsart anderseits erscheint mir der heute so lebhafte
Widerstand gegen die überlieferte Formel, die Heldensage sei ein Gemenge
aus Rhythmus und Geschichte. Freie Dichtung, so erkennt man jetzt, bildet
auch das Wesen der germanischen Heldensage; vom ganzen lebendigen
Organismus aus beurteilt man nun das Verhältnis zu Geschichte und
Mythus, das der gestalteten Sage innerlich allein möglich ist.
 
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