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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Dessoir, Max: Eröffnungsrede: erste allgemeine Sitzung, 7. Oktober, vormittags 9 1/2 Uhr
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0059

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Dessoir, Eröffnungsrede

53

Folgen wir den Schütterlinien der neuen Bewegung noch etwas weiter,
so stoßen wir zunächst auf eine Untersuchung der Gedichte Walthers von
der Vogelweide, die an die mittelalterliche Lyrik Fragen stellt, wie sie gleich
eindringlich und scharf vordem nicht erhoben worden sind. Anstatt nach
dem stofflichen Inhalt zu datieren und die sogenannten Lieder der niederen
Minne der Jugend, die der hohen Minne dem reiferen Alter des Dichters
zuzuweisen, wird der Stil Walthers im Vergleich zu dem seines Lehrers
Reinmar geprüft; der kunstgesunde Leitgedanke dabei ist, daß jeder junge
Dichter sich einem Meister anpaßt: die Gedichte, die sich an Reinmars
blasse, höfische Manier anschließen, werden nach feinen stilistischen und
metrischen Erwägungen der Frühzeit zugeschrieben, diejenigen, die dem
mehr volkstümlichen ritterlichen Minnelied und der Vagantendichtung
nahestehen, der nicht mehr höfisch gebundenen Wanderzeit Walthers. So
gelangt der dem Geist eines Kunstwerkes nachspürende Forscher dazu,
selbst Dunkelheiten der Datierung aufzuhellen. Aus dem Kreis der
klassischen Philologie stammt ein anderes Beispiel. Der Nachlaß der
Sappho ist kürzlich durch ein Mondscheingedicht vermehrt worden, das
zum Vergleich mit dem Goetheschen herausforderte; durch Einfühlung in
die Seele des Weibes, durch empfindungsvolles Betrachten des südlichen
Sternenhimmels ist nicht nur dieses Kleinod uns gewonnen, sondern auch
ein objektives Gesetz künstlerischer Anschauungs- und Gestaltungskraft
erkannt worden. Endlich wäre der Lehre von den klanglichen Konstanten
in Dichtung und Musik zu gedenken. Ihre letzte Voraussetzung nämlich
liegt in der Erkenntnis, daß das Eigenleben des Kunstwerks bestimmte
Forderungen an den Aufnehmenden stellt, die von diesem, wenn er
empfindlich genug und nicht durch Konvention gehemmt ist, unwillkürlich
erfüllt werden. Hier wird mit der Annahme gebrochen: man könne den
Vers ganz nach Belieben lesen, eine melodische Phrase Wagners genau
so singen wie eine Kantilene Bellinis, hier wird mit tieferem Sinn behauptet,
daß ein Gebilde erst im Genuß fertig werde, denn dieser ist nun nichts
beliebig Wechselndes mehr, sondern die gesetzmäßige Erfüllung des im
Gegenstand verkörperten Kunstwollens.
Ein paar anstreifende Bemerkungen müssen genügen, um für das
Gebiet der bildenden Kunst den Unterschied des neuen und des alten
Glaubens zu verdeutlichen. Während früher die Stile nach Einzelformen
oder gar Ornamenten gesondert wurden, findet man jetzt in der künst-
lerischen Gesamtanschauung das Wesen des Stils. Nicht die Rundbogen
machen ein Gebäude zu einem romanischen, sondern die inneren Richt-
linien der Raumabmessung, die in der Gliederung tätigen Bewegungskräfte,
die zu bestimmten Verhältnissen führenden Absichten des Aufbaus als
eines Ganzen. Eine Bildsäule soll nicht aus Merkmalen der Erscheinung
zusammengesetzt, vielmehr von der sie bedingenden Formgesetzlichkeit
her als funktionaler Ausdruck einer gegenständlichen Regelhaftigkeit
begriffen werden. Dieselbe Wendung vom Teil zum Ganzen, vom Außen
zum Innen scheint sich auch in der Musikwissenschaft zu vollziehen. Aber
wir müssen (und können) auf den Nachweis im einzelnen verzichten.
 
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