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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Dessoir, Max: Eröffnungsrede: erste allgemeine Sitzung, 7. Oktober, vormittags 9 1/2 Uhr
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0060

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54

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Da, wo wir nunmehr stehen, eröffnet sich eine hinreißende Aussicht.
Wir erblicken ein weithin sich dehnendes fruchtbares Neuland der
Forschung. Ob man von der Seite der Philosophie und der Psychologie
kommt oder von der Seite der geschichtlichen Forschung, immer sieht
man sich zum gleichen Mittelpunkt gewiesen. Wer von jener Richtung
her unser Gebiet betritt, muß erkennen, daß die ästhetischen Gegenstände
und zumal die Kunstobjekte nicht erst aus der ihnen etwa gegönnten
Betrachtung ihre Eigenart entleihen, sondern sie der Spielregel ver-
danken, die in ihnen selber wirkt. Der Historiker aber darf weder die
biographischen noch die kulturgeschichtlichen Randphänomene über-
schätzen, sondern er soll mit dem Wesen der Sache ihr Werden, mit
dem objektiven Gebilde seine Umgebung erfassen. So kann historische
Darstellung zu angewandter Ästhetik werden: sie bleibe Geschichte, aber
sie lasse sich sättigen mit dem Eigenwert der Kunst. Kein Sachkundiger
wünscht ein Absterben des geschichtlichen Sinns; nur ein wenig mehr
Spielraum fordern wir für die dem Werke selber zugewendete Wissenschaft:
denn die halb unbewußten Leitbegriffe eines unsystematischen Kopfes
pflegen höchstens für den Hausgebrauch ihres Erfinders nutzbar zu sein.
Die allgemeine Kunstwissenschaft erforscht das Gefüge der Objekte
unter dem doppelten Gesichtspunkt, daß es aus einem Kunstwollen ent-
standen und für künstlerischen Genuß bestimmt ist; diese Strukturlehre
geht vom Ganzen aus, dessen Gliederung sie verfolgt und dessen Einheit
sie in einer funktionalen Ordnung der Knüpfungswerte findet. Sie recht-
fertigt die Eigentümlichkeit einer Einzelerscheinung als Stufe in dem
Vorgang jener Gesetzlichkeit, die sich im Gesamtrhythmus der Kunst-
bewegung nicht minder als im idealen Gegenstände ausbreitet. Auch die
geistige Einheit des geschichtlichen Verlaufs besteht in einer funktionalen
Ordnung der Knüpfungswerte, nämlich in der gesetzmäßigen Verweisung
des einen Stils auf einen andern. Das ist nicht zu verwechseln mit der
üblichen Voraussetzung der Problemgeschichte, ein bestimmtes sachliches
Ziel könne erreicht werden. Denn was die geschichtlichen Tatbestände
zu vergleichbaren Größen macht, ist die Regel, dergemäß sie aufeinander
verweisen.
Wir sind, meine Damen und Herren, am Ende unserer gemeinsamen
Wanderung. Auf diesem schnell durchmessenen Wege mußte der Fuß
leichter vom Boden abgehoben werden, aber er senkte sich immer wieder
auf den festen Grund sicherer Tatsachen. Ob die Straße richtig gewählt
und das Ziel klar geschaut war — wer vermöchte das jetzt zu entscheiden?
Aus den Arbeiten unsres Kongresses und aus der persönlichen Fühlung
zwischen den hier versammelten Forschern wird sich, so hoffen wir,
eine hell leuchtende Erkenntnis entwickeln, denn, wie Plato sagt,
Xa μπάνια e%ovTes άιαάώσουσι,ν άΧΧηΧοις: diejenigen, die Fackeln tragen,
werden sie einander zureichen.
 
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