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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Bullough, Edward: Ein Beitrag zur genetischen Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0062

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Ich halte es für die Aufgabe der allgemeinen Ästhetik, eine Bestimmung
des ästhetischen Wertes (und damit auch des Kunstwertes als seiner
prägnantesten Fassung) zu geben, zunächst auf Grund der psychologischen
Analyse unserer Kunsterfahrung und des Studiums der objektiven Kunst-
werke.1) Im Interesse der Vollständigkeit ist es aber zu wünschen, daß das
Resultat dieser Forschung sich auch philosophisch auf das Verhältnis
des ästhetischen zu anderen Werten, und genetisch auf die Ent-
wicklung des ästhetischen Wertes selbst anwenden läßt Diese doppelte
Anwendbarkeit scheint mir aber bei Theorien wie der der Einfühlung,
Illusion, bewußten Selbsttäuschung, inneren Nachahmung und anderen
schwierig, wenn nicht unmöglich, zu sein. Ich selbst habe im vorigen Jahre
eine solche allgemeine Bestimmung unter dem Namen „psychische Distanz“
versucht.2) Ich kann hierauf nicht näher eingehen, möchte aber zur Erklärung
meines Standpunktes, der auch meiner Auffassung der genetischen Ästhetik
zugrunde liegt, bemerken, daß er sich in vielen Punkten mit dem von Külpe3)
aufgestellten Begriff des „Kontemplationswertes“ berührt.
Eine der Schwierigkeiten der genetischen Ästhetik liegt in dem Um-
stand, daß uns hier nur der terminus ad quem, nicht aber der terminus a quo
bekannt und zugänglich ist. Es handelt sich nicht, wie oft in der Biologie,
um die Entdeckung von Verbindungslinien von einer bekannten niedereren
zu einer ebenfalls bekannten höheren Form der Entwicklung. Vom Anfang
und Ende der Kunst kennen wir tatsächlich nur das Ende, die Kunst
unserer Zeit, und von der Kunst der Vergangenheit nur, oder fast nur,
unsere Auffassung derselben. Die Anerkennung dieser Tatsache, die
nicht nur die genetische Ästhetik, sondern die Genetik aller Geisteswissen-
schaften, der Ethik, Religionsphilosophie, Erkenntnistheorie, ja selbst der
Rechtswissenschaft berührt, bezeichnen wir als „historische Perspektive“.
Auf Grund derselben stellen wir die eben erwähnte Forderung, Bestim-
mungen, die auf spätere Entwicklungsphasen passen, nicht deshalb ohne
weiteres auch auf frühere zu übertragen. Was wir heute als gut oder recht
ansehen, braucht deshalb früher weder für gut und recht, noch aus den-
selben Gründen für gut und recht gehalten worden zu sein.
Die Formulierung des ästhetischen Wertes halte ich nun für die Aufgabe
der allgemeinen Ästhetik. Die Kompliziertheit unserer Kunsterfahrung
ist zwar enorm, und eine Skepsis, daß es uns je gelingen wird, ihr in allen
Punkten gerecht zu werden, sehr angebracht. Trotzdem muß diese Formu-
lierung der Ausgangspunkt der genetischen Ästhetik sein, und es scheint
mir verlorene Mühe, sich mit genetischer Ästhetik abzugeben, bevor dieses

*) Ich schließe mich hier ganz der Auffassung Meumanns an (vgl. Meumann:
„Die Grenzen der psychologischen Ästhetik“, in Philos. Abhandlungen, Max
Heinze gewidmet).
2) Bullough: „Psychical Distance as a factor in art and an aesthetic principle“
(Brit. Journal of Psychology, vol. V, p. 87 ff.).
3) Külpe: „Der assoziative Faktor des ästhetischen Eindrucks“, Vierteljahrs-
schrift f. wissenschaftl. Philosophie, Bd. 23. 1899.
 
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