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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Bullough, Edward: Ein Beitrag zur genetischen Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0063

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Bullough, Ein Beitrag' zur genetischen Ästhetik

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Resultat nicht mit allen Mitteln und Schikanen der heutigen Forschung
wenigstens einigermaßen gesichert ist. Ich halte es deshalb für eine
Umkehrung der wirklichen Lage der Dinge, das genetische Problem dem
allgemeinen Problem voranzustellen, und aus diesem Grunde kann ich auch
die Ansicht Grosses1) und Schmarsows2) nicht teilen, wenn sie glauben, im
Studium der Kunst der Vergangenheit die Lösung des Kunstproblems über-
haupt zu finden. Die erste Frage, die auf Antwort drängt, ist die: Was
ist und bedeutet Kunst für uns, die wir jetzt leben, uns
darüber aussprechen und verständigen können? Was das Mittelalter, was
die Römer und Griechen, Ägypter und Chaldäer, Inder und Chinesen für
Kunst hielten, können wir ja eventuell aus ihrem literarischen Nachlasse —
nicht aber direkt aus ihrer Kunst — erfahren. Doch sind derartige Auskünfte
immer fragmentarisch, unklar und schwankend, nicht nur wegen der oft
ungenauen, dunklen Formulierung ihrer Ansichten (man denke z. B. an
Aristoteles und seine Katharsis-Theorie), sondern aus dem viel tieferen
Grunde, daß der Begriff der Kunst selbst geschwankt und sich vielfach
verändert hat. Um so weniger können wir uns an die primitive und
prähistorische Kunst halten. Wir wissen relativ fast nichts über die Motive,
die der primitiven Kunst zugrunde liegen. Die ethnologische Forschung ist
sich erst seit kurzem dieser Frage überhaupt bewußt geworden, und, soweit
Untersuchungen angestellt und Motive nicht einfach nach Analogie der
unseren untergeschoben sind, scheinen nahezu 75 Prozent der primitiven
Kunst überhaupt nicht künstlerischen oder ästhetischen Motiven entsprungen
zu sein, was auch Hirn3) und Grosse4), wenn auch vielleicht nicht in dem
Umfange, zugeben. Außerdem ist das Beweismaterial der Primitiven
natürlich nicht ohne weiteres zu übertragen auf die Anfänge der Kunst. Denn
die Primitiven, wie wir sie jetzt kennen, haben selbst eine Jahrhunderte lange
Entwicklung durchgemacht. Infolgedessen sind vermutlich viele der
ursprünglichen Motive aus ihrem Bewußtsein geschwunden und teils durch
irrationelle Tradition ersetzt oder neu interpretiert worden, so daß der
erwähnte Prozentsatz ursprünglich wohl noch bedeutend höher gewesen sein
dürfte. Von prähistorischen Kunstmotiven vollends wissen wir gar nichts,
abgesehen von den Annahmen, die das vorliegende Material, nach Analogie
der jetzigen Primitiven, wahrscheinlich macht.5) Infolgedessen sind Aus-
führungen, wie die Verworns6) über „die Psychologie der primitiven Kunst“,
nicht nur rein schematische Konstruktionen, sondern auch tatsächlich
unbeweisbar.

4) E. Grosse: „Anfänge der Kunst“. 1894.
2) A. Schmarsow: „Kunstwissenschaft und Völkerpsychologie“, Zeitschrift
f. Ästh. II.
3) Υ. Hirn: „Origins of Art“. 1900.
4) E. Grosse: 1. c. S. 292.
6) Vgl. Cartailhac et Breuil: „La Caverne d’Altamira“. 1906. S. 145 ff.;
Sollas: „Hunters ancient and modern“. 1912.
®) Μ. Verworn: „Zur Psychologie der primitiven Kunst“ (Vortrag). 1908.
 
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