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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Bullough, Edward: Ein Beitrag zur genetischen Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0064

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Die Bestimmung des terminus ad quem ist demnach das erste Problem,
dessen Lösung uns die nötige Grundlage für das Problem der genetischen
Ästhetik bieten kann. Der Sache ist nicht damit gedient, eine „vorläufige
Definition“ der Kunst aufzustellen, die nur als Gerüst dienen soll und später
wieder abgebrochen werden kann. Eine solche Definition ist der Gesichts-
winkel, unter dem das ganze Material der früheren Kunst betrachtet werden
muß, und es ist wünschenswert, daß es nicht nur ein zeitweiliges Gerüst,
sondern ein dauerndes Gebäude sei, das die ganze Vergangenheit mit ihren
Verschiedenheiten in sich aufnehmen kann, ohne fortwährender Umbauten
und Erweiterungen zu bedürfen.
Nun wird aber gegen die grundlegende Bedeutung unserer Kunst-
auffassung zuweilen der Einwand erhoben, daß darin ein unzulässiger
Anspruch auf Anerkennung unserer gegenwärtigen Kunstanschauungen
liege. Indessen handelt es sich ja erstens gar nicht um Kunstkritik, sondern
um Ästhetik; d. h. um die Feststellung unserer Auffassung des Kunstwertes,
was an sich keine Wertung, sondern eine zu ermittelnde Tatsache ist.1)
Zweitens haben wir gar keine Wahl; und drittens scheint mir unsere Kunst-
auffassung doch einen gewissen Anspruch auf Anerkennung zu haben. Denn
im Vergleich mit der anderer Perioden, des 17. Jahrhunderts, des Mittel-
alters, selbst des Perikleischen Zeitalters, hat die Auffassung der Gegenwart
an Spezialisierung und Reinheit gewonnen, hat religiöse, pädagogische,
moralistische und andere Vorurteile abgestreift und besitzt eine bedeutende
Selbstkritik und vor allem eine historische Perspektive, die an sich eine
Garantie gegen gewisse Vorurteile bietet. Unser Verhältnis der Kunst der
Vergangenheit gegenüber (ich denke z. B. an die Geschichte der
Shakespeare-Würdigung) ist zweifellos freier, reicher, vielseitiger und
durchgebildeter als das früherer, selbst ihrer zeitgenössischen, Perioden.
Dies hat mich zu dem Punkt gebracht, den ich als das Hauptproblem
der genetischen Ästhetik betrachte: nämlich die Feststellung der
zeitlichen Verschiedenheiten und die Entwicklungs-
geschichte des ästhetischen Wertes. Nachdem die
allgemeine Ästhetik unsere Auffassung festgelegt hat, hat die
genetische Ästhetik die Frage zu beantworten: Wie ist das, was wir als
ästhetischen Wert betrachten, zum ästhetischen Wert geworden, wie ist er
entstanden und wie hat er sich entwickelt?
Die genetische Ästhetik bildet insofern eine notwendige Ergänzung der
allgemeinen Ästhetik. Nun wäre diese Frage leicht zu beantworten, wenn
wir der Evidenz der früheren Kunstobjekte trauen dürften. Indessen ist die
Kunst der Vergangenheit nur zum geringsten Grade eindeutig, und vor
dem Rückschluß vom Kunstwerk auf die Motive seiner Entstehung haben
uns Ethnologie und allgemeine Ästhetik energisch gewarnt. Übrigens würde
diese Prozedur das ganze Problem auf den Kopf stellen. Meiner Ansicht

A) Womit ich übrigens nicht in das alte Wespennest der normativen contra
positiven Ästhetik gestochen haben will.
 
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