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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Erste Allgemeine Sitzung
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Busse, Kurt Heinrich: Die Ausstellung zur vergleichenden Entwicklungsgeschichte der primitiven Kunst bei den Naturvölkern, den Kindern und in der Urzeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0088

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

erreicht die differenziertere Stufe der Gesichtsmasken, die noch nicht individuelle
Züge, aber einen bestimmten physiognomischen Typus verkörpern, und läßt in
den phantastischen Verkleidungen höher stehender Naturvölker das Prinzip der
Steigerung erkennen.
Bildnerei
Hiermit sind wir auf das Gebiet der Plastik (dritte Abteilung) über-
getreten, unter deren Tafeln übrigens auch die realistischen Porträtköpfe aus
Afrika nicht fehlen. Neben ihnen finden sich die erstaunlichen Gesichtsvasen
Altamerikas, die freilich wiederum in das Gebiet der Phantastik hinüber-
führen. Heber die paläolithische Elfenbeinplastik, die mit ihren neuesten Funden
vertreten ist, rückwärts schreitend, gelangen wir in die Epoche jener Assimila-
tionen, die die anthropomorphe oder zoomorphe Geräteplastik hervor-
bringen in Anlehnung an künstliche oder natürliche Formgegebenheiten. Am
untersten Punkte der Entwicklungsreihe sind die geometrischen Darstellungen
aus Australien ausgestellt, aus denen die Gestellsplastik entsteht. Die
interessanten Pfahlgestalten leiten zu naturalistischen Menschendarstellungen über.
Die Reliefbildnerei vertreten die Erzeugnisse der 30 000 Jahre alten
Kunstschule von Laussei, die den Übergang von der Ritzzeichnung zur Frei-
plastik erkennen lassen. Lehrreich ist der Vergleich der Tonarbeiten von Kindern
eines Künstlers und eines Kunsthistorikers. Im Gegensatz zu diesen beiden
begabten Individuen steht eine dritte Entwicklung, die die durch Resignation
erklärliche Bevorzugung geometrischer Formen (wie Vierecke als Häuser, Spiralen
als Schlangen) zeigt. Diese Auslese bestimmter einfachster Formgebilde verbürgt
bei geringstem Aufwande den größtmöglichen Erfolg und gewährt dem
Verfertiger die erwünschte Täuschung der Gegenstandsbedeutung ohne eigentliche
N aturnachbildung.
Den beschriebenen beiden Gruppen, die „Kindheit“ und „Vor-
geschichtliche Zeitalter“ betitelt sind, reiht sich eine dritte Sektion
der Ausstellung an unter dem Namen „U r z e i t e n“. Im Gegensatz zu der ver-
gleichenden Synopsis der beschriebenen Entwicklungsreihen und ihrer Konvergenz-
erscheinungen wird hier ein neues Dispositionsprinzip eingeführt. Ethnische
Individualentwicklungen sollen von hier ab verfolgt werden: das Herauswachsen
hoher Kulturen aus primitiveren Urformen. Daneben werden auch diejenigen
Völker eingeordnet, die, obwohl in der Jetztzeit sehr primitiv, eine prähistorische
Vorstufe erkennen lassen. An beiden Arten des Überganges sollen die
Entwicklungserscheinungen dargestellt werden.
Für die Kongreß-Ausstellung haben wir zwei Entwicklungen herausgegriffen,
die den Parallelismus des Normalablaufs deutlich zur Anschauung bringen. Es
sind die Tafeln der Untersuchungen Muths über die Stilprinzipien der primitiven
Tier Ornamentik bei den Chinesen und Germanen. Die Gliederung der chinesischen
Reihe wurde auf Grund der typologischen Aufstellung v. Hoerschelmanns und
der wenigstens nach Dynastien gegebenen Datierung, die der germanischen Reihe
gemäß der Periodenteilung Salins vorgenommen. So wird die Möglichkeit
gewonnen, nicht nur das Problem der primitiven Verfallskulturen und andererseits
die Frage nach dem Ursprünge der Kunst einer Lösung näher zu bringen, sondern
zugleich auch die Gesetze der Evolution überhaupt aufzudecken.
 
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