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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Zweite Allgemiene Sitzung
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Cohn, Jonas: Die Autonomie der Kunst und die Lage der gegenwärtigen Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0105

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Cohn, Die Autonomie der Kunst und die Lage der gegenwärtigen Kultur 99

tums. So zeigt sich in der scheinbar so fest begründeten, befriedigenden
Lehre von der Autonomie der Kunst ein tiefer Konflikt. Der Eigenwert der
Kunst wird erkannt aus einer Gesamtlage der Kultur heraus, das abgetrennte
Kunstwerk, die autonome Kunst erscheint als Heilmittel, als Ergänzung eines
ungeschlossenen, zerspaltenen Lebens. Und doch soll gerade durch die
Autonomie die Kunst von jeder Rücksicht auf diese Gesamtlage, auf das zu
Ergänzende befreit werden. Praktisch genommen, wird die Kunst eine
Spezialität, hört sie auf, Sache aller zu sein, weil sie sich vor der Heteronomie
retten muß.
So strebt die Kunst zurück in ein ungetrenntes Gesamtleben, sie sucht
eine neue, eine bewußte, gegliederte Pantonomie, in der sie
wie alle anderen Lebensgebiete ihre Eigenart zugleich bewahren und auf-
geben kann. Dabei verirren sich Künstler und mehr noch Genießer leicht
dazu, dem Leben das Gesetz der Kunst aufzudrängen, die einzelnen Lebens-
verhältnisse, die stets nur mit Rücksicht auf das Lebensganze geordnet
werden können, wie selbständige, in sich geschlossene Kunstwerke zu
behandeln. Das Ästhetentum, dessen Grundsatz damit ausgesprochen ist,
fühlt sich abgestoßen von der notwendigen Hilfsarbeit, die als solche niemals
in sich vollendet sein darf, es widerstreitet darum auch der großen künst-
lerischen Leistung, weil diese ohne Hilfsarbeit, ohne Aufopferung großer
Teile des Lebens nicht durchgebildet werden kann. Aber man soll die innere
Not nicht vergessen, aus der allein auch diese Verzerrung sich verstehen
läßt: nur weil die Arbeit mechanisch, das Leben allzu mittelbar und gestalt-
los wird, flüchten feinere und etwas überzarte Naturen in den Ästhetizismus.
Im Gegensätze zu dieser Herrschaft eines einzelnen Wertes steht das
Ideal einer neuen Pantonomie. Nur von ihm aus lassen sich die Ansätze
zur Lösung der modernen Konflikte beurteilen. Es ist aber dazu nötig, das
Ideal selbst scharf und richtig zu erfassen. Seit das Wort „Natur“, in dem
sich bei Rousseau und seinem Gefolge die Gegnerschaft gegen die künst-
liche Zerspaltung des Lebens zusammenfaßte, durch die Herrschaft der
rein kausalen Naturwissenschaft für diesen Zweck unbrauchbar geworden ist,
trat an seine Stelle mehr und mehr der Ruf nach „Leben“. Als Abtötungen,
Vergewaltigungen des Lebens werden die strengen Gebote der Sittlichkeit,
die starren Rechtssätze, die blassen Begriffe der Wissenschaft, die „abge-
schiedenen“ Gebilde der reinen Kunst empfunden. Aber wenn nun das
Leben in Gegensatz gebracht wird zu allen diesen Unterscheidungen und
Sonderbildungen, so wird es mit einer merkwürdigen Dialektik aus Begriffs-
feindschaft— in einen Begriff verwandelt. Das Leben, wie wir es wirklich leben,
ist nicht ein abstrakter Gegensatz zu abstrakten Begriffen, es stößt Begriffe
und festgewordene Wertgebiete nicht wie ein Fremdes von sich aus, sondern
zieht sie in sich hinein, schmeidigt ihre Starrheit, zerstört aber zugleich ihre
Reinheit. Wer rechnen gelernt hat, wer die abstrakte Zahl begriffen hat,
für den ist Rechnen und Zählen eine Lebensfunktion geworden; wer in die
Bilder eines großen Malers sich vertieft hat, der hat zugleich die Natur mit
dessen Augen sehen gelernt, die sichtbare Welt existiert für ihn in einem
 
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