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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Zweite Allgemiene Sitzung
DOI article:
Cohn, Jonas: Die Autonomie der Kunst und die Lage der gegenwärtigen Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0106

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

neuen Sinn. Weil nun Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Recht,
Sittlichkeit und Kunst jede ihre eigenen Normen haben, geraten sie bei dem
Bestreben, das Leben zu formen, miteinander und mit dem dunklen Lebens-
grunde in Konflikt. Das Leben, scheinbar das Selbstverständliche, wird zum
schwersten Problem; was wir wirklich leben, erscheint als bloßes Streben
nach echter Lebendigkeit. Die Lebenseinheit aber kann in doppelter Weise
gedacht werden, entweder als Chaos, aus dem sich die Gebilde entfalten,
oder als Kosmos, zu dem sie sich vereinigen. Zwischen den zwei Grenzen
des Lebens, dem ungegliederten dumpfen Triebleben, von dem alles ausgeht,
und dem gegliederten, zusammenfassenden Geistesleben, zu dem alles hin-
strebt, bewegt sich das Leben, das wir tatsächlich führen. Der Gegensatz
wird so ins Leben selbst hineingeführt, das gegensatzlos nur insofern ist,
als es alle Gegensätze in sich, keinen mehr außer sich hat. Nicht nur, um
zu erkennen, müssen wir trennen, auch um zu bilden, zu bauen, Staaten zu
errichten, die Triebe zu bändigen. Diese Notwendigkeit ist im Leben selbst
begründet; es gehört zum Wesen des Lebens, daß es aus sich heraus für
sich bestehende Gestalten absondert. In solche halb mythische Ausdrucks-
weisen gerät man leicht, wenn man das Leben als Ganzes, als erzeugende
Gottheit gleichsam, anschaut. Wissenschaftliche Klarheit aber fordert, daß
man diese mythischen Ausdrücke zugleich zerstört. Die Scheidungen der
Sondergebiete, so muß man sich exakter ausdrücken, gehören zum Leben
des Geistes, nur müssen die Scheidungen immer zugleich als Beziehungen
erfaßt werden.
Die gegliederte, bewußte Pantonomie, die alle Kulturgebiete zu einem
sie überschattenden und regelnden Leben vereinigt, ist also nicht vorhanden
als seiender Zustand, sondern nur entweder als Ideal, das das Streben regu-
liert, oder als Annäherung, als mehr oder minder gelungene „Synthese des
Unmöglichen“. Keine der vorangehenden Stufen hat neben ihr Existenz
und Existenzrecht eingebüßt, jede ist in ihr aufgehoben im Hegelschen
Sinne des Wortes, d. h. zugleich erhalten, vernichtet und über sich hinaus
erhöht. Die ursprüngliche Pantonomie bleibt der Ausgangspunkt der künst-
lerischen Produktion. Sie hat keinen sozialen Bestand mehr, wohl aber
individuellen. In der Liebe zur Ungebrochenheit des Kindes drückt sich
unser Verlangen nach dieser Pantonomie aus. Nicht aus der Kunstübung
der Kinder oder der „Volkskünstler“ kann der Künstler lernen — aber an
dem kindlichen Leben muß er sich immer wieder erfrischen. So wird die
ursprüngliche Pantonomie in die Stellung des Stoffes, des Ausgangsmaterials
gebracht. Das Recht der Heteronomie liegt am entgegengesetzten Ende,
bei der Verwendung des fertigen Kunstwerkes, entsprechend der Bedeutung
der Heteronomie als Gegenschlag gegen die ursprüngliche Pantonomie. Wo
man nicht sicher ist, daß die Wirkungen des Kunstwerkes in die geschlos-
senen Grenzen des ästhetischen Eindrucks gebannt bleiben, da hat man die
Pflicht, zu prüfen, ob die weiteren Wirkungen den anderen Werten, vor
allem den sittlichen, förderlich oder abträglich sind. Hier entstehen die Pro-
bleme der Kunstpolitik, Kunstpädagogik, Kunstdiätetik, die wie alle Fragen
 
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