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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Wallaschek, Richard: Subjektives Kunstgefühl und objektives Kunsturteil
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0178

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172

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Frage richten. Wie erklärt es sich, daß, obwohl unsere ästhetischen Urteile von
so vielen Motiven getrübt werden, doch nach einiger Zeit Übereinstimmung in
ihnen herrscht, so daß heute Keiner von uns Zweifel darüber hegt, daß Mozart,
Beethoven, Michel-Angelo, Raphael, Goethe, Moliere, Shakespeare die Größten
sind? Wie kommt aus so großen Widersprüchen einstimmiges Urteil heraus?
Ich habe über dieses Problem viel nachgedacht, aber noch keine zufriedenstellende
Lösung gefunden. Ich unterbreite es Ihrer Forschung.
II. Ich glaube nicht, daß die Suggestion fähig ist, das Problem zu lösen.
Herr Alt meint, daß, wenn wir Shakespeare, Moliere, Goethe als die Größten
anerkennen, dies daher kommt, daß wir diese Lehre von der Schule als unumstöß-
liche Wahrheit durchs Leben mitgenommen haben. Dies erscheint mir als nicht
richtig, denn neben dem Unter ordnungs- und Nachahmungstrieb des Kindes,
den ich nicht leugnen will, herrscht in ihm als noch stärkeres Element
der Widerspruchsgeist. Der gescheite, aufgeweckte Knabe läßt sich kein
ästhetisches Urteil eintrichtern und empfindet den unwiderstehlichen Hang, die
Urteile seiner Lehrer zu revidieren. Ich habe das an mir selber erfahren. Auf
der Schulbank lehrte man mich, daß ich Corneille und Racine als die größten
Dramatiker zu bewundern hätte, und ich mußte Seiten und Seiten aus ihren
Werken auswendig lernen. Nun fand ich Corneille unausstehlich rhetorisch und
Racine geradezu langweilig. Meine Bewunderung ging zu den Romantikern und
besonders den Zeitgenossen — Dumas usw. —, die unsere Lehrer als fehlerhaft
und unmoralisch brandmarkten. Erst seit etwa zehn Jahren habe ich meine
Urteile revidiert und die heroische Glut Corneilles, die unerreichbare Grazie
Racines würdigen gelernt. Es ist Ihnen wohl auch so mit dem „marmorkalten
Olympier“ Goethe und dem „Moraltrompeter“ Schiller ergangen.
Herr Alt: Das Geschmacksurteil ist und bleibt subjektiv. Die Überein-
stimmung der ästhetischen Werturteile ist jedoch in Wirklichkeit eine viel größere,
als hiernach angenommen werden sollte. Dies lehrt eine 5000 Jahre umfassende
Kunstgeschichte. Was hier als vortrefflich oder groß zu bezeichnen sei, steht
eigentlich vollkommen fest, mit im ganzen bedeutungslosen Schwankungen. Die
Wertbeurteilung stützt sich dabei auf Prinzipien, die als allgemeingültig betrachtet
werden dürfen, weil sie für die Kunstübung aller Zeiten als Gesetze gegolten
haben. Man wird also doch gewisse objektive Grundlagen dafür voraussetzen
müssen. Vielleicht erfahren wir hierüber morgen einiges von Herrn Basch.
Es ist nun allerdings richtig, daß die Menschen neuartigen Schöpfungen
zunächst meist ablehnend gegenüberstehen. Das ist jedoch ein Schicksal,
welches das Kunstgenie mit jedem andern teilt. Ich möchte es ein Gesetz der
Trägheit nennen, das dem Ungewohnten, bisher noch nicht Dagewesenen
entgegensteht. Es ist jedoch ein offenbarer Fehlschluß, wenn in neuester Zeit
gesagt wurde, deshalb sei einer ein Genie, weil er bekämpft wurde.
Mit der Bereicherungstheorie des Herrn Deri ist nichts getan, weil sie die
Wertfrage offen läßt. Nur das Wertvolle kann uns wahrhaft bereichern, nicht
das Neue, bloß weil es neu ist, nicht das Wertlose oder Schlechte, auch wenn es
bisher noch nicht dagewesen sein sollte. Man muß sagen und aus Gründen dartun
können, was wertvoll ist, sonst gibt es überhaupt kein ästhetisches Urteil.
Auf Zwischenruf von Herrn Deri, woher man das wisse? Herr Alt: Das weiß
man ganz genau oder kann man wissen. Eine objektive Idee der Dinge, die wir als
absolut schön bezeichnen, läßt sich nachweisen. Die Erfahrung lehrt, daß, je
 
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