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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Elsenhans, Theodor: Das künstlerische Genie und die Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0181

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Elsenhans, Das künstlerische Genie und die Ästhetik

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schiede zu machen und damit — ausgesprochen oder unausgesprochen —
„Forderungen“ zu stellen, denen das Kunstschaffen genügen soll.
Aber eben darin — also auch abgesehen von dem etwaigen Wider-
spruch gegen die philosophische Art ihrer Ableitung — allein in der
formalen Tatsache, daß Forderungen gestellt werden, die nicht in der Seele
des Künstlers selbst erwachsen sind, sondern von außen an ihn herantreten,
liegt der Kern unserer Schwierigkeit. Gerade das, was ihn zum Künstler oder
gar, was ihn zum künstlerischen Genie macht, scheint durch keine Forde-
rungen der Welt berührt zu werden. Es ist da oder es ist nicht da, und es
entfaltet seine Wirkungen wie eine Naturkraft, der gegenüber mensch-
liche Worte nichts bedeuten. Mit dem künstlerischen Genie untrennbar
verbunden ist stets eine angeborene Naturgabe, das Talent des Malers,
des Musikers, des Architekten, des Dichters, das als ursprüngliche Fähigkeit
dem, der es nicht hat, nicht anerzogen, sondern nur entwickelt oder nicht
entwickelt werden kann.
Es liegen bedeutsame Unterschiede des Kunstschaffens darin, welche
Rolle diesem Talentbestandteil des Genies — gleichsam dem Prozentsatz
des Talents im Genie — zukommt. Er ist z. B. um so größer, je enger eine
Kunst an bestimmte Sinnesgebiete gebunden ist, größer beim Maler oder
Musiker, geringer beim Dichter oder auch beim Architekten. Gemeinsam
aber ist den verschiedenen Arten des künstlerischen Genies, daß es sich
durch bestimmte Merkmale über das bloße Talent erhebt. Dazu gehört in
erster Linie eine ungewöhnliche Intensität des Erlebens. Aus
der Fülle dessen, was ihm begegnet an äußeren Eindrücken, an Farben und
Tönen, an Naturbildern und an Menschenschicksal, wird ihm vieles in ganz
anderer Weise zum inneren Ereignis, als beim Durchschnittsmenschen oder
auch beim bloßen Talent. Manche Autoren sehen darin das unterscheidende
Hauptmerkmal zwischen beiden. Konrad Lange z. B. sieht die Ursache dafür,
daß das künstlerische Genie eine stärkere Illusion erzeugen kann als das
künstlerische Talent, vor allem in seiner gesteigerten Gefühlsfähigkeit.1)
Wilhelm Dilthey2) hat es an Goethe in feiner Analyse gezeigt, wie die
einzelnen Züge seiner dichterischen Phantasie in einen geistigen Zusammen-
hang zurückführen, der schließlich in seinem Erleben, Verstehen,
Erfahren gegründet ist. Auch die dem Künstler, besonders dem Dichter,
häufig zugeschriebene Beobachtungsgabe gehört hierhier.3) Die Beobachtung
des Naturforschers ist aufmerksame Wahrnehmung mit dem Zwecke der
wissenschaftlichen Erkenntnis und unter Bereitstellung der ihm geläufigen
Begriffe, die des Arztes aufmerksame Wahrnehmung, um die Bedingungen
des Einwirkens kennen zu lernen. Die Beobachtung des Künstlers ist eine
Wahrnehmung, bei der die Aufmerksamkeit durch eine mit der An-
schauung als solcher verbundene Gefühlsbetonung bedingt ist —

T K. Lange, Das Wesen der Kunst, 2. Aufl. 1907 S. 443.
2) W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, 2. Aufl. 1907, S. 177 ff.
3) Vgl. hierzu: Μ. Dessoir, Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 1906,
S. 237 ff.
 
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