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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Elsenhans, Theodor: Das künstlerische Genie und die Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0182

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Ί76

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

ein ungeschiedenes Ineinander von Schauen und Fühlen, also gerade
ein Prozeß, den man als das Gegenteil aller theoretischen Betrachtung an-
sehen kann. Noch deutlicher tritt aber dieser Gegensatz zwischen
theoretischer Kunst und ästhetischer Theorie in anderen Merkmalen des
Genies hervor, vielleicht am deutlichsten in der Fassung, die sie in Kants
Lehre vom Genie gefunden haben. Da wird gesagt1), „daß Genie Ί. ein Talent
sei, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen·,
nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgendeiner Regel gelernt
werden kann; folglich, daß Originalität seine erste Eigenschaft sein
müsse, 2. daß, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Produkte
zugleich Muster, d. h. exemplarisch sein müssen“; „3. daß es, wie es
sein Produkt zustande bringt, selbst nicht beschreiben oder wissenschaftlich
anzeigen kann, sondern daß es als Natur die Regel gebe“; „4. daß die
Natur durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel
vorschreibe, und auch dieses nur, insofern diese letztere schöne Kunst sein
soll“. Sehen wir von dem letztgenannten, sehr bestreitbaren Punkt, der
Beurteilung des wissenschaftlichen Genies, hier zunächst ab, so können wir
neben der schon charakterisierten Intensität des Erlebens drei Punkte
herausheben, welche das künstlerische Talent zum Genie machen: die
Unwillkürlichkeit, die Originalität und die Musterhaftigkeit oder Vorbildlich-
keit seines Schaffens, lauter Eigenschaften, in denen der Gegensatz zu jeder
bewußten Leitung durch theoretisch gefundene Regeln einen Höhepunkt
erreicht. Gerade daß es nicht nach Regeln schafft und daß es selbst
der Kunst unbewußt erst Regeln gibt, gehört zu seinem ureigensten Wesen.
Außer diesem sachlichen Gegensatz besteht aber noch ein anderer,
gewissermaßen persönlicher, zwischen der schöpferischen Kunst und der
ästhetischen Theorie. Der schaffende Künstler hat häufig eine Abneigung
gegen das Theoretisieren als solches, von der er sich
nicht immer Rechenschaft gibt. Peter Rosegger gibt diesem Ge-
danken einmal drastischen Ausdruck:2) ,Ein Dichter kann nicht
dumm genug sein", sagte ich im Gespräch einmal, worauf jemand
rasch entgegnete: ,Sie sind ein großer Dichter." Indessen ist
es mein Ernst, das viele Denken zerstreut die Phantasie, und die
soll doch beim Dichter wichtiger sein als das Denken. Ferner
meine ich, daß es für die Einfachheit und Leichtverständlichkeit des
Stiles nicht günstig ist, wenn einer zu viel weiß, wenn sich zu viele Ge-
danken in die Feder drängen, die alle auf einmal aufs Papier wollen. Ich
glaube fast, daß der Begriffstützige eine klarere Schreibweise hat als der
leichtfassende, der komplizierte Geist. Dieser macht zu gern auch seine
Sätze kompliziert, während jener nach eigenem Maßstabe immer mit Lesern
rechnet, denen man alles deutlich, womöglich bildlich und beispielmäßig
sagen muß, wenn sie es fassen sollen. Nun, dumm genug zum Dichter wäre
mancher, aber es fehlt ihm leider wieder was anderes. Und Goethe i Man

x) Kant, Kritik der Urteilskraft § 46 (Ausgabe der Akademie S. 307).
2) Im Tagebuch der Zeitschrift „Heimgarten“, Verlag Leykam, Graz.
 
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