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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Meyer, Theodor: Die Persönlichkeit des Künstlers im Kunstwerk und ihre ästhetische Bedeutung
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0216

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210

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Ebenso gewinnt die Wiedergabe des gegenständlich Nichtigen geistigen
Inhalt und Schönheit durch die Künstlerpersönlichkeit, die sich in ihr
ausspricht. Zwar schaut der L'art-pour-l’art-Künstler die Wirklichkeit weniger
als Mensch denn als Künstler, ihn reizt am Gegenstand allein die dar-
stellerische Aufgabe. Aber sobald er diese selbständig löst, blickt uns auch
aus seinem Werk eine eigenartige Persönlichkeit (wenn auch vornehmlich
nach ihrer artistischen Seite, nach der Feinheit ihrer Organisation für
Farbe und Licht, für Linien und Raumverhältnisse, nach ihrem Herrscher-
willen zur Vereinheitlichung des Mannigfaltigen und anderen künstlerischen
Fähigkeiten) entgegen, und damit hat das Werk einen geistigen Inhalt von
eindrücklicher Schönheit gewonnen. Diesem Inhalt eignet zugleich eine
geheimnisvolle Tiefe; denn alles Persönliche und Individuelle ist dem
Verstand undurchdringlich und irrational geheimnisvoll und zugleich gött-
lich, wenn man als göttlich bezeichnen darf, was an Lebensfülle das Durch-
schnittsmaß unermeßlich überragt.
Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich ein sicherer Maßstab für die oft
verhandelte Rangordnung der Kunstwerke. Ein Kunstwerk ist desto schöner,
bedeutender und größer, je schöner, d. h. je kraftvoller, feiner oder tiefer
die Persönlichkeit ist, die dahinter steht. Ist dem so, dann kann kein
Zweifel sein, daß die Artistenkunst hinter der Gegenstandskunst zurück-
stehen muß, weil der Künstler in dieser sich mit seiner ganzen Vollnatur
schauend, denkend, fühlend mit der Wirklichkeit auseinandersetzt, während
in jener die rein menschliche Seite seines Wesens gegenüber der
artistischen in den Hintergrund tritt. Andererseits ist auf Grund desselben
Gesichtspunktes ebenso klar, daß der „Nurmaler“, der eine kräftige
artistische Eigenart besitzt, unendlich viel mehr ist und inhaltlich viel mehr
bietet, als der Gegenstandsmaler, der menschliche und artistische Eigenart
vermissen läßt.
Es ist nicht jedermanns Sache, im Kunstwerk den Künstler zu sehen
und zu genießen; es erfordert feine Schulung im ästhetischen Erfassen,
die menschliche und noch mehr die artistische Seite in der Persönlichkeit
des schaffenden Künstlers zu erleben und zu genießen; in den naiven
Zeiten eines stofflichen Genusses wird deshalb ein Eindruck von ihr im
Kunstgenuß nur ganz unbetont mitschwingen, andererseits verleitet die
Seltenheit und ästhetische Höhe der Befähigung, in der Darstellung die
artistischen Züge des Künstlergeistes wahrzunehmen, zur irrtümlichen
Annahme, als sei in der rein artistischen Auffassung des Kunstwerks die
höchste und allein wahrhaft ästhetische Auffassung und Wirkung der Kunst
zu sehen. Es würde eine unendliche Verarmung der Kunst bedeuten, wenn
ihr nicht immer wieder neben rein auf Formverhältnisse organisierten
Sinnenmenschen Vollpersönlichkeiten erstehen würden, die sich in ihren
Gebilden schaffend und gestaltend mit der Welt und dem eigenen Innern
auseinandersetzen. Denn wie die Kunst aufs engste geknüpft ist an die
Künstlerpersönlichkeit, so ist höchste Kunst undenkbar ohne volles
Menschentum des schöpferischen Individuums.
 
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