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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Meyer, Theodor: Die Persönlichkeit des Künstlers im Kunstwerk und ihre ästhetische Bedeutung
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0218

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

rung der Selbstbeobachtung aber, wie man sie als Angehöriger eines bestimmten
Typus ohne Rücksicht auf die gleichberechtigten anderen Typen anstellt, gelangt
man zu Einseitigkeiten und zu einer Verkennung der individuellen Differenzen.
Herr Theodor A. Meyer scheint mir einem Typus anzugehören, der sich durch
Vernachlässigung der anschaulichen und gegenständlichen Momente im Kunst-
werk auszeichnet und daher geneigt ist, deren Bedeutung zu unterschätzen. In
Wahrheit bestehen hier Unterschiede im ästhetischen Erleben, die man nicht
übersehen darf. Der eine erlebt die Formverhältnisse, der andere hat Gefühle,
die sich auf den Inhalt des Kunstwerks beziehen, der eine faßt das gegenständlich
Dargestellte als solches auf, der andere findet darin den Ausdruck des Lebens
und der Persönlichkeit des Künstlers. Aus dieser Verschiedenheit der Typen
erklärt sich die verschiedene Wertschätzung der Artistenkunst und der Gehalts-
kunst. Sätze wie: „Das Kunstwerk ist schön, wenn die Künstlerpersönlichkeit
schön ist“, oder: „Das Naturschöne ist keine so große Quelle des ästhetischen
Genusses wie das Kunstschöne“, können meines Erachtens eine gewisse Berech-
tigung nur vom Standpunkt eines bestimmten Typus des ästhetischen Verhaltens
aus haben, aber sie sind keine allgemeinen ästhetischen Grundgesetze.
Herr Meyer: Ich stehe unter dem Eindruck, daß sich die Herren
Diskussionsredner gegen Annahmen gewandt haben, die ich nicht gemacht habe.
Mit Herrn Hamack bin ich darin vollständig einverstanden, daß das theoretisch-
historische Wissen um den Namen und die Wesensart des Künstlers beim
Kunstwerk keine Rolle spielt und spielen darf. Ich habe mehrfach betont, daß
die Künstlerpersönlichkeit im Kunstwerk nur genossen wird, soweit sie in ihm
durchscheint. Auch wenn der Verfasser der Tragödie „Richard III.“ uns ganz
unbekannt wäre, so würde uns aus diesem Werk eine Schärfe der Charakteristik,
eine Tiefe der psychologischen Führung und eine staunenswerte Sprachgewalt
entgegentreten, die wir nur auf die uns unbekannte Persönlichkeit des schaffenden
Dichters beziehen könnten; in diesen, wie noch in vielen anderen im Werk selber
hervortretenden Kräften genießen wir die Schönheit und Größe von
Shakespeares Seele.
Herrn Heines Einwand, die Künstlerpersönlichkeit werde von mir in einer
unnatürlichen Weise in eine artistische und eine rein menschliche Seite auseinander-
gerissen, glaube ich mit der Bemerkung begegnet zu sein, daß diese Unterscheidung
ein Stück wissenschaftlich notwendiger, wenn auch unlebendiger Schubfach-
psychologie sei; denn auch der artistische Charakter habe seine tiefsten Wurzeln
in der breiten Unterlage der menschlichen Eigenart.
Auch die verschiedenen Typen ästhetischen Genießens, von denen Herr
Moog gesprochen hat, erkenne ich an; ich habe ja selbst solche Typen unter-
schieden; aber es muß gestattet sein, einen idealen Typus (gleichviel ob er in der
Wirklichkeit in vollständiger Ausprägung vorkommt oder nicht) festzustellen; und
zu seinen Eigentümlichkeiten gehört eben auch die Wertung des Kunstwerks unter
dem Gesichtspunkt der Künstlerpersönlichkeit.
Die Betrachtungsweise, die hier geübt worden ist, ist unsern Klassikern nicht
fremd gewesen; wenn Goethe und Schiller von der Vernichtung des Stoffs durch
die Form reden, so verstehen sie die Form als das Werk des die Form schaffenden
und gestaltenden Künstlers, der in dieser Formung sein Wesen in das Kunst-
werk ergießt.
 
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