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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Britsch, Gustaf: Der Begriff des künstlerischen Tatbestandes
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0315

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Britsch, Der Begriff des künstlerischen Tatbestandes

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länglich, wohl aber als unverständlich, als unbegreifbar angemutet haben.
Aus dieser Gruppe der zunächst unverständlichen Kunstwerke haben sich
aber im Laufe der Zeit nicht wenige abgesondert und sind in die Reihe
der Werke übergegangen, die uns heute als richtig gelten. Ich erinnere
dabei etwa an die Geschichte des Impressionismus.
Daraus ergibt sich: daß offenbar der Maßstab der Beurteilung, als den
wir die uns sichtbar gegebene Natur anzunehmen geneigt sind, nicht ein
feststehender, uns selbstverständlicher ist, daß wir überhaupt nicht von
einer jedem selbstverständlich gegebenen sichtbaren Natur sprechen dürfen,
wenn wir diesen Maßstab kennzeichnen wollen. Der Beurteilungsmaßstab
ändert sich vielmehr, und er besteht nicht unmittelbar aus unseren vor der
Natur gewonnenen Gesichtssinneserlebnissen oder aus Erinnerungen an
solche, sondern aus Vorstellungen, die sich über Gesichtssinneserlebnisse
für uns gebildet haben. Dieser Besitz an Vorstellungen und damit der
Beurteilungsmaßstab ist teilweise gebildet durch die Übernahme der
geistigen Leistungen anderer, entnommen aus deren — zunächst unver-
standenen — dann begreifbar gewordenen Werken.
Man wird vielleicht einwerfen: die Behauptung einer Änderung des
Beurteilungsmaßstabes lasse sich ersetzen durch die Annahme einer Gewöh-
nung an neu gesehene Kunstwerke. Ich glaube, daß sich wirklich eine solche
bloße Gewöhnung weitgehend an die Stelle der Übernahme der im Kunst-
werk enthaltenen neuen geistigen Leistung setzt. Unser ganzes wissen-
schaftliches wie außerwissenschaftliches Verhalten Werken bildender Kunst
gegenüber ist heute einem eigenen geistigen Erarbeiten gerade dieser im
Kunstwerk dargebotenen Leistung durchaus ungünstig. Trotzdem ist die
Tatsache festzuhalten, daß in Kunstwerken geistige Leistungen enthalten
sind, die ändernd auf unser ganzes Vorstellen einer sichtbaren Natur ein-
greifen können. Eine solche Änderung des Beurteilungsmaßstabes müssen
wir ebenfalls annehmen, um zu erklären, wieso Kunstwerke zur Zeit ihrer
Entstehung als richtig wirken konnten, ja als neue Möglichkeiten, Gesehenes
zu begreifen, die wir heute als unrichtig, mindestens als unzulänglich
erachten.
Ich komme zur näheren Bestimmung der im Kunstwerk vorausgesetzten
— für sich gearteten — geistigen Leistung. Der Stoff, auf den sich diese
Leistung richtet, ist die scheinbar gegebene, in Wirklichkeit dem Vorstellen
aufgegebene sichtbare Natur. Das heißt: die Gesamtheit unserer
Gesichtssinnesempfindungen und ihrer Erinnerungen. Die im Kunstwerk
niedergelegte Leistung ist durch das Kunstwerk auf andere geistig über-
tragbar. Sie kann von andern übernommen werden und ändernd einwirken
auf ihren bestehenden Besitz schon erarbeiteter Vorstellungen. Dieser
jeweilige Besitz — nicht eine als selbstverständlich gegeben vorausgesetzte
sichtbare Natur — bildet zugleich den Maßstab für die Beurteilung von
Werken bildender Kunst. Die geistige Übertragbarkeit auf andere, die
Ersetzbarkeit bestehender Vorstellungen durch geistiges Erarbeiten neuer
Leistungen und die im Wesen des Beurteilungsmaßstabes liegende
allgemeine Anwendbarkeit auf eine bestimmte Gruppe von geistigen Erleb-
 
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