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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Britsch, Gustaf: Der Begriff des künstlerischen Tatbestandes
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0316

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

nissen, endlich die damit geleistete geistige Zusammenfassung führt mich
dazu, die das Kunstwerk begründende besondere geistige Leistung — den
künstlerischen Tatbestand am Kunstwerk — als eine Theorienbildung
über Gesichtssinneserlebnisse anzusprechen.
Wissenschaftliche Bemühungen, die sich auf solche Theorienbildung
richten, sind damit selbst eine Theorie über Theorienbildungen; und sofern
das durch die bildende Kunst Geleistete eine Erkenntnis über Gesichts-
sinneserlebnisse genannt zu werden vermag, wird eine solche kunstwissen-
schaftliche Tätigkeit zu einer erkenntnistheoretischen.
So stellt sich der Verarbeitungsstoff der bildenden Künste
dar als die Gesamtheit der Gesichtssinneserlebnisse, die Leistung der
bildenden Kunst als Theorienbildung über diese bestimmte Gruppe
geistiger Erlebnisse. Der Verarbeitungsstoff einer kunst-
wissenschaftlichen, erkenntnistheoretisch gerichteten Disziplin sind die in
den Kunstwerken als den Quellen enthaltenen künstlerischen Tatbestände;
die Aufgabe einer solchen Disziplin: die künstlerischen Tatbestände
zu ermitteln, ihre Entstehung aus geistigen Bedingungen aufzuzeigen und
sie zusammenfassend einheitlich zu verarbeiten.
Einer ersten Unterscheidung und Einteilung bieten sich gegeneinander
leicht abgrenzbare Gruppen von künstlerischen Theorienbildungen. Ich
komme dazu auf das schon erwähnte Beispiel der als richtig und der als
unzulänglich beurteilten Kunstwerke zurück. Als unzulängliche Kunstwerke
mögen etwa bestimmte Kinderzeichnungen angesehen werden. Aber auch
ägyptische Reliefdarstellungen fallen heute vielfach unter den Begriff
unrichtiger Darstellung. Was bedeutet nun in diesem Falle die Frage nach
Richtigkeit oder Unrichtigkeit? Offenbar die Frage nach dem Vergleich
der Anordnung der Teile im Bilde mit einer möglichen Anordnung
entsprechender Teile in der sichtbaren Natur. Sicher kann diese Frage
gestellt werden; — ihre Beantwortung weist die meisten ägyptischen Kunst-
werke und ebenso Kinderzeichnungen unter die Gruppe unrichtiger Natur-
darstellungen.
Diese Fragestellung trifft aber nicht den künstlerischen Tatbestand als
solchen. Für ihn lautet die Frage: Wie ist das ägyptische Kunstwerk in
seiner Entstehung zu erklären unter dem Gesichtspunkt der Darstellung
— nicht einer als gegeben vorausgesetzten, sichtbaren Natur —, sondern
der Darstellung eines geistigen Vorstellungszusammenhanges, in dem der
Ägypter seine Gesichtssinneserlebnisse befaßte, unter dem er diese Erleb-
nisse begriff? Nicht die Frage, ob jene Theorie des Ägypters mit heutigen
Erkenntnissen übereinstimmt — sie ist unbedenklich zu verneinen —,
sondern ob jene Theorie für uns denkbar, vorstellungsmöglich, unter ihren
geistigen Voraussetzungen folgerichtig ist, das ist die Frage, die sich auf
den künstlerischen Tatbestand, auf die geistige Leistung im ägyptischen
Kunstwerk richtet. Und so gestellt, ist diese Frage wohl zu bejahen. Auch
heute noch vermögen wir durchaus die geistigen Bedingungen einzusehen,
die die Theorienbildung des Ägypters bestimmten, und wohl für die meisten
von heute ist jene uralte Theorienbildung nicht ein überwundener, überholter
 
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