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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Britsch, Gustaf: Der Begriff des künstlerischen Tatbestandes
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0317

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Britsch, Der Begriff des künstlerischen Tatbestandes

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künstlerischer Standpunkt, sondern ein dem Grade der einheitlichen geisti-
gen Haltung nach noch nicht einmal erreichter.
Der Grad der Einheitlichkeit der geistigen Haltung auf bestimmter Stufe,
nicht die größere oder geringere Menge der die Verarbeitungsstufen
bestimmenden geistigen Bedingungen ist das Entscheidende für die künst-
lerische Wertung. Daß wir den einheitlichen, den denknotwendigen
geistigen Zusammenhang begreifen können, auch wenn er längst durch
umfassendere Theorienbildungen verdrängt ist, das ermöglicht uns, Kunst-
werke aller Zeiten nebeneinander schätzen zu können, sofern sie nur
wirkliche, auf ihrer Stufe einheitliche Theorienbildungen, einheitliche künst-
lerische Tatbestände aufweisen; denn dadurch werden sie zu zeitlosen,
dauernden Bildern menschlicher Erkenntnis.
Die Frage der Unterscheidung und Einteilung der künstlerischen Tat-
bestände ergibt zugleich die Frage nach dem Kriterium für den künst-
lerischen Tatbestand am Kunstwerk. Sie ist zu beantworten durch die
Forderung, daß der künstlerische Tatbestand sich erweisen müsse als eine
Theorie für Gesichtssinneserlebnisse, d. h. daß der im Einzelfall des Kunst-
werkes vorgeführte, übermittelte Bestand sich allgemein anwenden
lasse auf Gesichtssinneserlebnisse überhaupt.
Die Unterscheidung von Gruppen der Theorienbildungen richtet sich
nach der Gleichartigkeit der geistigen Bedingungen für die Verarbeitung
der Gesichtssinneserlebnisse.
Die Ersetzbarkeit einer Theorienbildung durch eine andere bildet den
Entscheid für die logische Reihenfolge von Stufen der geistigen Haltung,
denen die künstlerischen Tatbestände zugeordnet werden können.
Gegenüber den üblichen Einteilungen der Werke bildender Kunst
beschränkt sich diese Art kunstwissenschaftlicher Arbeit auf den künst-
lerischen Tatbestand am Kunstwerk. Die geistigen Entstehungsbedingungen
sind das Entscheidende für den künstlerischen Tatbestand und bestimmen
damit auch die Einteilungsweise, unabhängig von der bei Werken bildender
Kunst üblichen Unterscheidung nach dem Realisierungsmaterial: ob
Malerei, Plastik, Architektur, und ebenso unabhängig von der zeitlichen
und örtlichen Gebundenheit und Einordnung, der das Kunstwerk durch seine
Entstehung zugehört.
So entsteht neben der Kunstgeschichte — als der Geschichte der
Kunstwerke — als neues Arbeitsgebiet die Geschichte des künst-
lerischen Tatbestandes am Kunstwerk als eine Geschichte
menschlicher Erkenntnis über Gesichtssinneserlebnisse. Eine solche Arbeit
unternehmen zu wollen, wäre undenkbar ohne die glänzende Bereitstellung
der als Quellen notwendigen Kunstwerke, die heute durch die Kunst-
geschichte schon geleistet ist.
Neben die Ermittlung der geschichtlichen Stellung des einzelnen
Kunstwerkes stellt sich als Aufgabe die Ermittlung derjenigen künstlerischen
Tatbestände, die als jeweils erstmalig auftretende, durch den Grad ihrer
Einheit sich auszeichnende Originaltatbestände großen Gruppen
von künstlerischen Leistungen ihre Vorstellungsart übermittelt haben. Den
 
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