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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Fischer, Otokar: Über den Anteil des künstlerischen Instinkts an literarhistorischer Forschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0346

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

solche Gestalten und Zeiten in das Gesichtsfeld des Forschers, die nicht
fertig dastehen; helldunkle Farben, problematische Charaktere, der ahnungs-
reiche Hintergrund einer Dichtung sind besonders geeignet, die Aufmerk-
samkeit eines derartigen Forschers auf sich zu ziehen, vor allem aber:
das nicht zu Ende Gesagte, alles Unnennbare, das der Einbildungskraft
freien Spielraum überläßt, die großen Fragmente der Weltliteratur usw.
Oder umgekehrt, man begleitet ein fertiges Erzeugnis in seine früheren
Stadien zurück, man versucht in die Geheimnisse des Schöpfungsprozesses
einzudringen, man konstruiert ein Urschema der Dichtung.
All diese Tätigkeiten bergen allerdings die große Gefahr willkürlicher
Subjektivität, starker Hervorkehrung des persönlichen Moments, unwissen-
schaftlicher Kombinationslust und Phantastik in sich. Es ersteht daher dem
Literarhistoriker die schwere Aufgabe einer Erziehung und Selbstzucht. Wo
es sich um eine starke Forschung handeln soll, kommt es doch zu guter Letzt
auf eine Scheidung von Erkenntnisdrang und Schaffenslust an. Es gilt
die Losung, bei der Darstellung wissenschaftlicher Probleme den Künstler
in sich nicht etwa zu verleugnen, sondern zu überwinden, damit die Intuition,
das Gefühlsleben, das Reproduktionsvermögen der wissenschaftlichen
Aufgabe dienstbar und fruchtbar gemacht werden könne. Als günstige
Gelegenheit, die sich ansammelnden künstlerischen Nebentriebe in den
Dienst des zu behandelnden Gegenstandes zu stellen, bietet sich die Über-
setzertätigkeit an, bei der es ja auf ein Kräftemessen mit dem Original
und doch auf eine freiwillige Subordination unter dasselbe ankommt.
Dagegen ist die sich als erstklassige Kunst gebärende Kritik, d. h. die
sogenannte künstlerische Kritik als eine Halbheit zu beurteilen, bei der es
sich weder um reine Kunst noch um strenge Wissenschaft handelt. Es
muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß der Literaturwissen-
schaft, der Kritik sowohl als der Geschichte, im Vergleiche mit fast allen
Geisteswissenschaften (die Geschichte der Philosophie ausgenommen) eine
Sonderstellung zukommt. Die Kunst, mit der sich der Literarhistoriker
befaßt, ist die Wortkunst; sein eigenes Werkzeug nun sind aber wiederum
Worte: daraus ergeben sich bedeutend größere Verwicklungen und
Verlockungen als die, denen ein Historiker und selbst ein Kunsthistoriker
ausgesetzt ist, daraus resultiert ein gut Teil Konflikte, die ein doppelt
veranlagter und einer Einheit zustrebender Forscher zu erleben und zu
bestehen hat.
Diskussion:
Herr Harnack: Die methodische Forschung bedarf auf dem Gebiet der
Literaturgeschichte der Ergänzung durch den „künstlerischen Instinkt“. Die
methodische Forschung geht darauf aus, überall den wahrscheinlichsten
Gang des schöpferischen Prozesses zu ermitteln; aus dem Bereich des Wahr-
scheinlichen kann sie sich nicht befreien. Im Leben ereignet sich aber tatsächlich
in einzelnen Fällen auch das Unwahrscheinliche; besonders häufig aber im Leben
und Schaffen des Künstlers, des Dichters. Der künstlerische Instinkt läßt den
 
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