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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Kayssler, Friedrich: Das Schaffen des Schauspielers
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0399

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Kayßler, Das Schaffen des Schauspielers

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gesichtspunkte in den Beziehungen der Figuren zueinander festgelegt.
Nach der Arrangierprobe kommt, für mich wenigstens, der allerwichtigste
Teil der Arbeit, die L e r n p a u s e , d. h. die Zeit, die dem Schauspieler
gegeben wird, um sich zu Hause die Rolle zu eigen zu machen. Diese
Lernpause wird leider Gottes im allgemeinen von den Theatern recht stief-
mütterlich behandelt. Man achtet sie nicht genug, und das kommt wohl
zum Teil daher, daß sehr viele Schauspieler sich erst allmählich im Laufe
der Proben die Rolle aneignen und dieses Aneignen, sowohl was den
Text, als auch was die inneren psychischen Dinge anlangt, sich bei den
meisten nicht in einen bestimmten Lernabschnitt einpressen läßt. Ich für
meinen Teil kämpfe stets für diese Lernpause, weil sie für mich der
Inbegriff der intimsten, persönlichsten künstlerischen Arbeit ist. Das
Lernen besteht für mich in einem rückhaltlosen, tiefinnerlichen Durchleben
der Rolle während des Auswendiglernens (selbstverständlich nur an der
Hand eines Buches, niemals nach einer ausgeschriebenen Rolle, übrigens
dem Sinnlosesten, was je bei der Bühne existiert hat). Dieses Lernen ist
also nicht ein Lernen des Wortes, sondern ein unmittelbares Durchdringen
von Gefühl, Gedanke, Wort und Geste, alles in einem genommen, kurz:
ein Versuch, den darzustellenden Menschen gewissermaßen mit einem
Sprunge zu erfassen. Und zwar muß dieses Lernen haarscharf genau in dem
Tempo geschehen, das die betreffende Szene im Spiel auf der Bühne
erfordert, sonst leidet meine ganze Arbeit darunter. Textliche Sicherheit,
Ausarbeitung der Stellungen, Verschmelzung der eigenen Rollenarbeit
mit der der Partner zu einem einheitlichen Ganzen — das ist das Pensum
der Bühnenproben.
Da diese ersten Lerntage für mich die weitaus intensivste Arbeit
bedeuten, so erreiche ich alle Tiefen und Höhen, die mir innerhalb der
Rolle überhaupt erreichbar sind, in diesen Tagen. Komme ich dann auf
die erste Bühnenprobe, so habe ich jedesmal einen ziemlich schweren
Kampf gegen eine heftige Scheu zu bestehen, das in einsamer Arbeit
Errungene in Gegenwart anderer preiszugeben. Das klingt für Unkundige
vielleicht unwahrscheinlich. Aber gegen gewisse Naturanlagen vermag
auch die größte Übung und Gewöhnung nichts auszurichten. Man kann
achtzehn Jahre an der Bühne sein und trotzdem diese Scheu bei jeder
Rolle von neuem empfinden.
Soviel ich gesehen und gehört habe, hat jeder mehr oder weniger
mit dieser Scheu zu kämpfen; der eine mehr in den Anfangsproben, der
andere später; ein wesentlicher Unterschied besteht wohl mehr in der
Fähigkeit, sie zu überwinden und zu verbergen. Ausnahmen davon bilden
nur leichtfertige, unbescheidene Naturen ohne den Trieb zur Selbstkritik,
welche Darstellen an sich überhaupt nicht als Selbstbekennen empfinden.
Es ist unendlich vieles, was überwunden werden muß. Bei der einsamen
Arbeit zu Hause ist man mit sich und seiner Phantasie allein. Keine Partner,
keine Szenerie, keine störenden Unterbrechungen. Das Gefühl kann sich
frei ergehen innerhalb der ihm zu Gebote stehenden Technik. Die Phantasie
ergänzt leicht und allzu willig alles, was die darzustellende Gestalt zur
 
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