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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Goodman, Alfred: Kunst und Wissenschaft des Gesanges
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0522

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Nach dem jetzigen Stand der wissenschaftlichen Untersuchungen besonders
durch die Versuche von Katzenstein1) kann man es als erwiesen betrachten,
daß drei Register vorhanden sind, die der Kunstsänger anwenden kann. Jedes
dieser Register hat seine eigene Schwingungsart der Stimmlippen und zeichnet
sich ebenso für das geübte Ohr aus wie seine Klangkurve, wenn man sie photo-
graphiert und nach Fourier analysiert, einen typischen Charakter aufweist.
So weit kann die Wissenschaft hier mitreden. Aber die Verwendungsmöglichkeit
dieser Register ist Sache der Kunst. Ihre Verbindung zu einer klanglichen Einheit
durch Verschmelzung der Übergangsformen ist Sache der persönlichen
Beanlagung des Einzelnen und kann durch keinerlei theoretische Einsicht des
Singenden ersetzt werden.
Intuitiv lernt der zur Gesangskunst Veranlagte das Zusammenwirken
aller technisch-geistigen Faktoren als eine oft von ihm gar nicht als solche
erkannte Verbindung. Sache der Wissenschaft ist es nun, diese Komplexe
zu analysieren. Immer mehr Methoden feinster Messungen sind ersonnen
worden, seit der geniale Physiologe Johannes Müller seine ersten
grundlegenden Experimente am Leichenkehlkopf ausführte und der große
Gesangskünstler Garcia zeigte, wie man den Kehlkopf des lebenden
Menschen in seiner Tätigkeit mittels einen kleinen Spiegels beobachten
könne. Einzelheiten über diese Methoden sowie den Stand der Probleme
zu erörtern ist nicht Angelegenheit dieses Kongresses. Näheres kann man
am besten aus Gutzmanns kleiner Schrift „Physiologie der Stimme
und Sprache“ (Braunschweig, Vieweg, 1909) ersehen.
Wissenschaft und Kunst des Gesanges hängen aufs engste zusammen.
Jeder Experimentator, der ohne Kenntnis des Kunstgesanges durch physi-
kalische, anatomische, physiologische Messungen am Sänger vorgeht,
eliminiert unbewußt durch seine Versuchsanordnung oft gerade das, was
das Wesentliche für die Kunst des Gesanges ist. Andererseits kann kein
auch noch so genialer Gesangskünstler aus seiner Selbstbeobachtung heraus
wirklich wertvolle Aufschlüsse über die Art der Vorgänge geben,
die ihn so singen machen. Unwesentliche Mitbewegungen, Vibrationen
u. a. hält er oft für die Hauptsache und weiß nicht, daß die Muskel-
empfindungen der beteiligten Organe ihm gar nichts aussagen können. Nur
wenn Künstler und Wissenschaftler Hand in Hand arbeiten — oder, falls
der Wissenschaftler die Kunst des Gesanges beherrscht, der Künstler die
wissenschaftlichen Grundlagen der Stimme und Sprache kennt und versteht
— kann der Kunst und der Wissenschaft des Gesanges Nutzen erwachsen.

Musik“ ist im „Archiv für Phonetik“ erschienen, wo auch Herr Sievers seine
Auffassung· mitteilt. Darum verzichte ich hier auf den Abdruck der Polemik contra
Rutz und Sievers. Schließlich beziehe ich mich auf meinen prinzipiellen Aufsatz
„Zur Psychophysik des Gesanges“ in der Zeitschrift für Psychologie, Bd. 63 Heft 3
(1912, sowie in den „Beiträgen zur Akustik und Musikwissenschaft“, herausgegeben
von C. Stumpf, Heft VII).
x) Katzenstein, Uber Brust-, Mittel- und Falschstimme. Passow u. Schalter
Beiträge Bd. IV. Heft 3 u. 4 (1911).
 
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