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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Riemann, Hugo: Gignómvnon und Geyovos beim Musikhören: ein aristoxenischer Beitrag zur modernen Musikästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0525

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Riemann, Γίγνόμ£νον und Γeyovos beim Musikhören

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auch zugleich den Blick frei für das Erkennen der letzten Ursache
der Formfeindlichkeit der Tonmalerei und Programm-
Musik. Es ist das aber eine Frage von so aktuellem Interesse, daß es
wohl der Mühe lohnt, bei dem antiken Ästhetiker in die Schule zu gehen,
um die heutige Ästhetik einen wichtigen Schritt vorwärts zu bringen. Um
es gleich kurz zu sagen: das antiformale Prinzip der Tonmalerei ist
nichts anderes als die Tendenz, die rezeptive Phantasie auf das
aisS'dvesS'ai το γιγνόμ6νον zu beschränken, mit Beiseiteschiebung des
μνημονβΰαν τό yeyovos. Die Unterscheidung des „Werdenden" (γιγνόμενον),
im zeitlichen Verlaufe sich Abspielenden, von dem „Gewordenen"
(yeyovös), dem in der Erinnerung festgehaltenen Vorausgegangenen, ohne
welches der Zusammenhang eines Musikstückes nicht verständlich werden
kann (aXXws §’ούκ εστι tols ev τμ μουσικμ τναρακολοιι^έίν), bedeutet ja doch
bei Aristoxenos nichts Geringeres als die bestimmte Erkenntnis, daß das
Musikhören ein Ansammeln von Melodieteilen in der
Vorstellung ist, welches das Nacheinander der Tonfolgen
(für deren lebenerfüllte Subjektivation bei Erklingen der oben angeführte
§ 27 die nicht mißzuverstehende letzte Erklärung gegeben hat) in ein
Miteinander verwandelt, d. h. aus dem zeitlichen Geschehen
eine Art räumlichen Zugleichbestehens macht; die durchlaufenen
Tonlinien stehen als ein yeyovos in der Erinnerung als einheitlich erfaßte
Elemente eines formalen Aufbaus fest, der schließlich als ein wohlgefügtes
Ganze übersichtlich bleibt. Umgekehrt wie den Werken der bildenden
Künste ihre Starrheit benommen wird durch die analysierende
Unterscheidung ihrer konstitutiven Elemente, deren Konturen das Auge
überfliegt, so daß sie Leben gewinnen und einzeln hervortreten, also durch
H i n e i n t r a g u n g von B e w e g u n g s v o r s t e 11 u n g e n in das
Bewegungslose, konstruiert also die Tonphantasie aus den zu raum-
artigen Gebilden gewordenen Tonbewegungen synthetisch archi-
tektonische Formen. Dieses ästhetische Bedürfnis, das neu Hinzu-
kommende mit dem Vorausgegangenen auseinander- oder vielmehr
zusammenzusetzen, gründet sich auf die erkennbaren harmonischen Verwandt-
schaftsbeziehungen der Töne, ihre taktische Ordnung und die tonartliche
Einheitlichkeit oder doch Rundläufigkeit des Ganzen und könnte ohne sie
nicht Zustandekommen; eben darum ist aber ganz gewiß dieses Ansammeln
und Kombinieren der in raumartige Vorstellungen umgesetzten Ton-
bewegungen geradezu selbst als Prinzip der musikalischen
Formgebung anzusprechen.
In der darstellenden Musik (Tonmalerei), von ihren be-
scheidensten Ansätzen in der Detailmalerei, der Ausdeutung von Einzel-
worten (Wortmalerei), durch charakteristische Bewegungsformen in der
Gesangsmelodie bis zu ihren weitestgehenden Anwendungen als Programm-
sonate oder sinfonische Dichtung, steht nun aber diese Erinnerung an das
yeyovds durchaus nicht im Vordergründe; im Gegenteil ist es ihr gerade
darum zu tun, dasγιγνόμενον wirklich als ein zeitlich verlaufendes zu
belassen, dessen Rolle erledigt ist, sobald es durch neue Bildungen abgelöst
 
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