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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Riemann, Hugo: Gignómvnon und Geyovos beim Musikhören: ein aristoxenischer Beitrag zur modernen Musikästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0526

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520

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

wird, so z. B. Liedbegleitungen, welche das Säuseln des Windes, das
Rauschen des Baches, das Klappern einer Mühle, den Galopp eines Pferdes
usw. usw., versinnlichen, für welche es darum auch gar nicht einer eigent-
lich konstruktiven Entwicklung von Motiven bedarf, die vielmehr eine Ein-
förmigkeit vertragen, welche außerhalb solcher nur illustrierenden Ver-
wendungen abstoßend wirken müßte, aber hier willig hingenommen wird,
weil sie nicht Selbstzweck, sondern nur untergeordnete, wenn auch wert-
volle und wirksame Zutat ist zu einem anderweiten zielbewußten kunst-
mäßigen Gestalten und ihrerseits für ein solches in keiner Weise aufzu-
kommen hat. Wird in solchen Fällen dennoch ein bestimmteres thematisches
Gestalten und Entwickeln bemerkbar, so stellt sich auch sogleich die
Neigung ein, in der Begleitung nicht mehr nur etwas Akzessorisches zu
erblicken und sie nicht mehr nur als zeitlich verlaufend, als geschehende
Bewegung zu verstehen, sondern vielmehr in ihr den eigentlichen Träger
des Aufbaues zu erblicken. Nur wo die Singstimme auf geschlossene
Melodiebildung und Kantabilität verzichtet und rezitativische, deklamierende
Haltung einnimmt, wird diese Vertauschung der Rollen eventuell zur
ästhetischen Notwendigkeit. Schon hier wird aber ersichtlich, wie schwer
eine radikale Scheidung des γιγνόμβνον vom yeyovos sich gestaltet, da
das yeyovos sich fast überall gebieterisch vordrängt; das Gegenteil, die
Neigung, auf die raumartige Vorstellung der Tongebilde zu verzichten,
wird nur äußerst selten zu konstatieren sein. In der dramatischen Musik,
besonders seit Wagner, ist die stärkere Heranziehung der begleitenden
Instrumentalmusik für die eigentliche thematische Gestaltung etwas durch-
aus Gewöhnliches. Aber für alle Vokalmusik ist wohl zu beachten, daß in
ihr die Musik nicht allein für die Formgebung aufzukommen hat. Wenn
auch eine stärkere Verleugnung der Ansprüche der Musik auf Geltend-
machung ihrer immanenten Bildungsgesetze immer Gefahr läuft, Mißfallen
zu erregen, so muß doch zugestanden werden, daß ein fortschreitend mit-
gehender Worttext gebieterisch die Musik in Bahnen zwingen kann, die sie
ohne den Text nicht einschlagen würde, z. B. schroffe Tonartenwechsel,
Tempo- und Taktwechsel usw., bis zur Aufgabe jedes erkennbaren Zu-
sammenhanges des Folgenden mit dem Vorausgegangenen. Ganz anders
liegen aber die Verhältnisse, wo nicht ein mitgehender Worttext oder eine
fortschreitende szenische (eventuell auch eine nur pantomimische) Handlung
den Schlüssel für solches an sich innerer Einheit entbehrende Gebaren der
Musik gibt, sondern die Musik allein Kunstwerke schafft.
Die Fähigkeit der Musik, durch besondere Modalitäten der Tonbewegung
ganz bestimmte Assoziationen zu wecken, sei es durch (stilisierte) Nach-
bildung hörbarer Vorgänge oder auch durch vikarierende Analogie-
bildungen, durch Supposition von Tonbewegungen für sichtbare Vorgänge,
steht außer Frage und ist oft nachgewiesen, auch oben bereits kurz berührt.
Neben der dort besprochenen untergeordneten Ausnutzung dieser Möglich-
keiten in der begleitenden Instrumentalmusik ist nun aber zunächst das
weite Gebiet der durch Titelgebungen als solche legitimierten Charakte-
ristischeninstrumentalmusik anzuziehen, die durchaus nicht auf
 
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